Evolutionstheoretisch gesund – artgerecht leben: Ein erweiterter Blick auf Krankheiten und ihre Prävention

Evolution der Gesundheit

Evolutionstheoretisch gesund – artgerecht leben: Ein erweiterter Blick auf Krankheiten und ihre Prävention

Einleitung

Nicht nur klassische Zivilisationskrankheiten wie Typ 2-Diabetes, Bluthochdruck, Arteriosklerose, Herzinfarkt und Schlaganfall, sondern die meisten Gesundheits- und Befindlichkeitsstörungen werden durch einen „ungesunden“ Lebensstil befördert. Doch was charakterisiert einen ungesunden Lebensstil? Was ist der gemeinsame Nenner von allbekannten Risikofaktoren wie Rauchen, Bewegungsmangel, Bürostress, zu üppigem, zuckerreichem, salzigem, fettigem, schadstoffhaltigem oder sonst wie falschem Essen? Was verbindet sie mit weniger bekannten Risikofaktoren wie Lichtmangel oder zuviel Hygiene und mit solchen Risikofaktoren, die uns vielleicht noch gar nicht bewusst sind? Sie alle sind nicht im Einklang mit den biologischen Voraussetzungen, die wir in einer jahrtausende bis jahrmillionen langen Evolution erworben haben. Sie stören unser biologisch artgerechtes Leben.

Folgen Sie uns in diesem Artikel auf eine Warte, von der aus versucht wird, medizinische Fragestellungen und insbesondere solche der Erhaltung von Gesundheit und Wohlbefinden evolutionstheoretisch zu beleuchten. Dabei sollen Sie nicht nur ein theoretisches Wissen erwerben sondern auch konkrete Anleitungen erfahren, wie Sie mit manchmal nur kleinen Änderungen Ihrer Ernährungs- und sonstigen Lebensgewohnheiten ein bisschen artgerechter und damit gesünder leben können. Viele dieser Empfehlungen werden Ihnen bereits bekannt vorkommen. Aber vielleicht gelingt so manche der angesagten Umstellungen leichter, wenn Sie sich auch die evolutionstheoretisch plausible Begründung dafür immer wieder vor Augen führen.

Erfahren Sie etwa in Kapitel II Grundlegendes zu unserem evolutionär angestammten Essen und warum wir stellenweise bis in die Altsteinzeit zurückgehen müssen, um richtige Vorbilder für eine gesunde moderne Ernährung zu finden. Dabei wird unter anderem auch deutlich werden, dass sowohl das was als auch das wie wir essen Einfluss auf unsere Gesundheit haben kann. Wir neigen heute dazu, unsere biologischen Ernährungsvorgaben nicht nur mit falschem, wenig artgerechtem Essen zu überfordern. Viele von uns essen zudem bekanntlich zu viel und die meisten – weniger bekannt – vor allem auch zu oft. Sollte also beispielsweise hin und wieder freiwillig fasten, wer nicht mehr hungern muss?

Kapitel III beschäftigt sich mit unserer bewegten Vergangenheit. Mutter Natur hielt uns die längste Zeit unserer Geschichte automatisch aktiv. Das tägliche Essen konnte nicht im Supermarkt erstanden sondern musste beim Jagen und Sammeln erlaufen oder mit harter Feldarbeit gesichert werden. Verlockt oder besser verdammt zu moderner Passivität, droht ein evolutionär auf Trab programmierter Körper vorzeitig krank und alt zu werden. Wo Bewegung kein Selbstläufer mehr ist, sind deshalb ausreichende freiwillige körperliche Aktivitäten ein Muss. Warum es dann besser wäre, seine Joggingrunden im Gelände als auf planen Wegen zu drehen, ist eine interessante Detailfrage, die in diesem Kapitel ebenfalls evolutionstheoretisch beantwortet werden wird.

Nicht nur Pflanzen, auch der Mensch braucht ungefiltertes Tageslicht, um zu gedeihen und gesund zu bleiben. Kapitel IV wird erörtern, wie weit sich der moderne Büromensch von dieser evolutionären Vorgabe entfernt hat und was schadensbegrenzend dagegen getan werden kann. Während wir heute am Tag durchschnittlich viel zu wenig Licht bekommen, beleuchtet uns des Nachts eher zuviel. Warum auch das unserer Gesundheit abträglich sein kann und welche Gegenmaßnahmen sich anbieten, ist ebenfalls ein Thema dieses Kapitels.

Kosmetik- und Putzmittelindustrie haben den modernen Menschen zu mehr Sauberkeit erzogen als gut für ihn ist. In Kapitel V wird dargelegt, was aktuelle Forschungen zunehmend bestätigen: In der Welt der Mikroben gibt es weitaus mehr evolutionär bewährte Partner als Feinde des Menschen. Putzt man sie unreflektiert weg, kann der Schaden größer als der Nutzen werden. Eine möglichst sterile Umwelt ist vielleicht auf Intensivstationen wünschenswert, ansonsten aber überhaupt nicht artgerecht.

Immer mehr Menschen werden kurzsichtig oder hören schon vor dem Greisenalter schlecht. Auch daran hat ein nicht mehr artgerechtes Leben einen erheblichen Anteil. Ein Rückblick auf unsere Ahnen lässt Sie in Kapitel VI erahnen, was möglicherweise zu tun wäre, damit unsere Sinne weniger abstumpfen.

In zahlreichen Beziehungen herrscht nach wenigen Jahren ein bescheidenes Sexualleben und viele Partnerschaften sind stärker durch Konflikte als durch Harmonie geprägt. Dass auch hier auf die Frage nach dem Warum die Evolutionstheorie plausible Antworten hat, wird in Kapitel VII dargelegt. Eine praktikable Lösung ergibt sich für die meisten daraus vorerst wohl eher nicht, aber immerhin eine Entlastung von falschen Schuldgefühlen und Schuldzuweisungen. Und das ist schon mal eine gute Voraussetzung, wieder besser miteinander klar zu kommen.

Selbst gut über ihren riskanten Lebensstil informierten, intelligenten Menschen fällt es erfahrungsgemäß schwer, sich zu ändern, als schädlich erkannte aber subjektiv vielleicht als angenehm empfundene Verhaltensweisen zu unterlassen. Wie in Kapitel VIII nahe gebracht wird, kann sich aber auch darüber nur wundern, wer unseren evolutionären Hintergrund nicht kennt. Denn die meiste Zeit seiner Geschichte tat der Mensch gut daran, seinem inneren Schweinehund freien Lauf zu lassen. Die äußeren Umstände sorgten schon dafür, dass er nicht zu sehr über die Stränge schlug. Heute sind viele dieser automatischen Beschränkungen überwunden, weshalb wir unseren inneren Schweinehund selbst an die Leine nehmen müssen. Wer ihn versteht, sollte in ihn leichter zähmen können.

Womöglich neigt der/die eine oder andere Leser/in dazu, mit dem Kapitel zu beginnen, das ihn/sie am meisten interessiert. Dagegen ist nichts einzuwenden, da die einzelnen Kapitel weniger aufeinander aufbauen als vielmehr eigenständige Einheiten bilden. Eine Ausnahme stellt lediglich Kapitel I dar. Da dieser kurze Abriss evolutionstheoretischer Prinzipien das Verständnis der in den weiteren Kapiteln gezogenen Schlüsse erleichtert, sollte es tatsächlich als Erstes zu Gemüte geführt werden.

Kapitel I: Evolutionstheoretisches Einmaleins

Über die Evolutionstheorie könnte man ganze Bände schreiben. Insbesondere auch über ihre ungelösten Fragen wie den herausragenden Umstand, dass es bislang zumindest bei höheren Lebewesen wie insbesondere Wirbeltieren noch nicht gelungen ist, die postulierte Entstehung neuer Arten experimentell nachzuvollziehen. Aus Schafen konnte man bislang immer nur neue Schafrassen (auch wenn manche vielleicht wie Ziegen aussehen) züchten, nie aber einen Wiederkäuer, der nur annähernd die Kriterien einer neuen Art erfüllen würde. Solche Detailfragen sind aber für den Zweck dieses Buches nicht von Bedeutung. Selbst auf die Behandlung evolutionstheoretischer Begrifflichkeiten wie Genrekombination, dominante und rezessive Erbanlagen soll und kann hier verzichtet werden. Es genügt die Besinnung auf einige Basics.

Versuch und Irrtum

Wie jedes andere Lebewesen, ist auch der Mensch Ergebnis einer bis an die Anfänge allen Lebens zurück reichenden Evolution. Basisvoraussetzung des Ganzen ist der Umstand, dass in genetischen Erbanlagen bei der Übertragung von einer Generation auf die nächste immer wieder Kopierfehler, so genannte Genmutationen auftreten.

Diese Kopierfehler sind nicht zielgerichtet sondern rein zufällig. Inwieweit sich das mutierte neue Gen, die von ihm codierte biologische Merkmalsausprägung und damit der Träger dieses Mehrmals innerhalb seiner Artgenossen ausbreitet, hängt ab vom Ausmaß des Vorteils, den ein solchermaßen modifiziertes Individuum im Vergleich zu seinen herkömmlichen Artgenossen in einer bestehenden Umwelt genießt. Die Umwelt selektiert.

Genmutationen mit in der bestehenden Umwelt nachteiligen Merkmalsausprägungen verlieren sich auf kurz oder lang wieder mit ihren Trägern im Survival of the Fittest. Genetisch bedingte Abweichungen, die weder einen Vor- noch einen Nachteil beinhalten, lassen ihre Träger eine kleine Minderheit innerhalb ihrer Art bleiben. Bietet eine Mutation in der bestehenden Umwelt dagegen bessere Überlebens und Fortpflanzungschancen, breiten sich die Begünstigten innerhalb ihrer Art aus und wenn die relevanten Umweltbedingungen lange genug stabil bleiben, können ihre Nachkommen zur dominierenden Variante innerhalb ihrer Art werden. Ebenso können aber plötzliche Umweltveränderungen dazu führen, dass eine bislang bedeutungslose Genmutation einen Überlebens- und Fortpflanzungsvorteil beschert.

Genmutationen, die für ihren Träger vorteilhaft sind, könnten beispielsweise solche sein, die ihn befähigen, schneller zu laufen als seine Artgenossen. Als Fluchttier fiele es ihm damit leichter, Angreifern zu entrinnen und als Beutegreifer wäre er erfolgreicher bei der Jagd. Beides beschert bessere Überlebens- und Fortpflanzungschancen. Ähnliche günstige Konsequenzen hätte ein Gen, das für effektivere Tarnfarben kodiert oder für ein neues Enzym, das Nährstoffe besser verwerten lässt beziehungsweise widerstandfähiger gegen bestimmte Krankheitserreger macht. Manchmal kann sich sogar ein genetisch bedingtes Merkmal, das in der Auseinandersetzung mit der äußeren Umwelt von Nachteil ist, innerhalb einer Art dennoch durchsetzen. Nämlich dann, wenn der umweltbezogene Überlebensnachteil durch einen Fortpflanzungsvorteil in der Partnerwerbung übertroffen wird. Bekanntes Beispiel sind die langen, zum imponierenden Radschlagen geeigneten Schwanzfedern eines männlichen Pfaus. Die behindern zwar bei der Flucht vor Raubtieren, bescheren aber große sexuelle Erfolge bei den Hennen der Art.

Das Mäuseschwänzchengleichnis

Bisher Gesagtes lässt sich einfach und einleuchtend mit dem Mäuseschwänzchengleichnis, das später noch einmal strapaziert werden soll, veranschaulichen. Angenommen, in einer Population langschwänziger Mäuse wird aufgrund einer vererbbaren Genmutation ein Mäuschen mit einem kaum sichtbaren Stummelschwanz geboren. Lebten die besagten Mäuse nicht nur am Boden sondern müssten zur Futtersuche auch auf Bäume und Äste klettern, hätte die neue Stummelschwanzvariante einen klaren Nachteil. Da ihr ein wichtiges Gleichgewichts und Greiforgan fehlt, wäre sie im Geäst weniger geschickt unterwegs als ihre langschwänzigen Artgenossen und daher von vielen Beutegreifern leichter zu erwischen. Ihre Überlebens- und Fortpflanzungschancen stünden schlecht und Stummelschwanzmäuschen könnten sich in dieser Population kaum etablieren.

Würde das Stummelschwanzmäuschen dagegen in eine meistens am Boden oder gar in Löchern lebende Mäusepopulation geboren, wäre der fehlende Schwanz weder von Nachteil (sofern potenzielle Geschlechtspartner das neue Merkmal nicht signifikant ablehnen) noch von Vorteil für die Überlebens- und Fortpflanzungschancen der neuen Artvariante. Sie könnte sich damit mit Minderheitenstatus in ihrer Population etablieren.

Sobald es allerdings in der Umwelt unserer Mäuse einen erfolgreichen Mäusefresser geben würde, der seine Opfer grundsätzlich nur erwischen kann indem er sie am Schwanz packt, hätte unser Stummelschwanzmäuschen einen gravierenden Überlebens- und damit Fortpflanzungsvorteil. Je nach Jagdglück des Schwanzpackers, würden es und seine Nachfahren womöglich innerhalb weniger Generationen zur dominierenden Variante innerhalb ihrer Art werden.

Die biologische Evolution des Menschen: Eingefroren auf dem Stand von Jägern und Sammlern

Die meisten biologischen Eigenschaften des Menschen sind noch ein stammesgeschichtliches Erbe aus dem Tierreich. Sie wurden also bereits lange vor der Menschwerdung evolutionär erworben und haben sich offensichtlich über Jahrmillionen artenübergreifend bewährt. So sind beispielsweise das Herz und viele weitere Organe in Aufbau und Funktion bei allen Säugetieren einschließlich des Menschen weitgehend gleich. So gleich, dass heute Forschungsvorhaben vor der Klinikreife stehen, bei Menschen versagende Organe durch entsprechende Organe von Schweinen zu ersetzen. Probleme bereitet bei diesem Ausweg aus der humanen Organmangelsituation nicht die Funktion sondern die immunologische Verträglichkeit von Tierorganen im Menschen. Die entscheidende Hürde ist deshalb, das Immunsystem der Spendertiere durch Genmanipulationen dem Immunsystem von Menschen ausreichend anzugleichen.

Je näher sich Lebewesen in der stammesgeschichtlichen Ahnenreihe stehen, desto mehr biologische Eigenschaften haben sie gemeinsam. Affen und insbesondere Menschenaffen sind uns deshalb deutlich ähnlicher als beispielsweise Schweine. (Warum wir in der Transplantation dennoch auf Schweine- und nicht auf Menschenaffenorgane zurückgreifen, ist Ethik- und Ressourcenanforderungen geschuldet.) Selbstverständlich haben wir in unserer humanspezifischen Evolution  zahlreiche Eigenschaften erworben, die uns von allen Mitgeschöpfen einschließlich der Affen unterscheiden. Am augenfälligsten sind der aufrechte Gang, der die Hände für komplexere Manipulationen als das Gehen freigab, das reduzierte Fell und vor allem das leistungsstarke Gehirn. Wissenschaftler, die sich speziell mit der Evolution des Menschen beschäftigen, sind mehrheitlich der Ansicht, dass wir mit unseren biologischen Voraussetzungen und Bedürfnissen größtenteils im Stadium der Jäger und Sammler stehen geblieben sind. Verantwortlich dafür sind vor allem der Zeit- und der Kulturfaktor.

Der Zeitfaktor

Damit sich vorteilhafte neue Erbanlagen beziehungsweise ihre Merkmalsausprägungen in einer Population durchsetzen, müssen die den Vorteil gewährenden selektiven Bedingungen der Umwelt lange genug bestehen. Was lange genug ist, hängt ab von der Stärke des selektiven Vorteils und von der Geschwindigkeit der Generationenfolge. Bei Lebewesen wie Bakterien, die sich teilweise im Minutentakt vermehren, kann sich eine vorteilhafte Mutation manchmal schon innerhalb weniger Wochen bis Tage durchsetzen. Dies erklärt, warum sich etwa unter einer Antibiotikatherapie manchmal rasch Bakterienstämme entwickeln, die gegen das eingesetzte Antibiotikum nicht mehr sonderlich empfindlich sind. Das Antibiotikum ist hier also nichts anderes als eine Umweltbedingung, die die Ausbreitung dagegen unempfindlicher Bakterienmutanten im behandelten Körper begünstigt.

Auch die Züchtung neuer Haustierrassen unter der hoch selektiven Zuchtwahl des Menschen ist ein gutes Beispiel, wie Evolution im Zeitraffer funktioniert und wie bedeutsam die Geschwindigkeit der Generationenfolge ist. Etwa einen neuen Farbschlag kann man bei sich rasch vermehrenden Haustieren wie Mäusen oder Kaninchen deutlich schneller etablieren als bei sich vergleichsweise langsam vermehrenden Rindern oder Pferden.

Im Vergleich zu selbst langlebigen Tieren, hat der Homo sapiens von seinem Anbeginn an eine außergewöhnlich langsame Generationenfolge und eine geringe Nachkommenzahl. Die Geschlechtsreife begann frühestens mit elf bis zwölf Jahren und pro Frau und Jahr gab es im gebärfähigen Lebensabschnitt eher weniger denn mehr als ein Kind. Schon allein deshalb würde selbst eine Neumutation mit hoch selektivem Vorteil wohl viele hunderte oder gar tausende von Jahren benötigen, bis sie einen nennenswerten Anteil in einer bestehenden Population erringen würde. Hinzu kommt jedoch eine weitere Bremse der menschlichen biologischen Evolution: Die kulturellen Errungenschaften.

Der Kulturfaktor

Während der Mensch in Körperkraft, Wehrhaftigkeit, Schnelligkeit und vielen Sinnesleistungen den meisten Tieren vergleichbarer Größe unterlegen ist, hat seine Evolution ein Organ perfektioniert: Das Gehirn. Sogar beide Klitschko-Brüder gemeinsam und unterstützt von Arnold Schwarzenegger hätten im Kampf mit bloßen Händen gegen einen mittelprächtigen Schimpansen nicht die geringste Chance. Bereits ein Faustkeil, erst recht aber eine Streitaxt oder gar ein Gewehr in menschlicher Hand, haben die Verhältnisse komplett umgedreht. Schimpansen sind vom Aussterben bedroht während wir den Planeten überbevölkern und beim Erwerb eines Führerscheins würde selbst der dümmste Tarzan gegen die intelligenteste Cheeta glänzen.

Was den Menschen also zum bislang erfolgreichsten Wesen auf diesem Planeten werden ließ, war sein außergewöhnliches Gehirn und die davon geleistete Erfindung immer effektiverer Waffen, Arbeits- und sonstiger Naturbeherrschungsgeräte. Mit solchen technischen oder kulturellen Errungenschaften war und ist es ihm möglich, biologische Defizite mehr als auszugleichen. Auch menschliche genetische Neumutationen, die für eine potenziell selektiv vorteilhafte biologische Eigenschaft kodieren, verloren und verlieren diesen selektiven Vorteil, sobald es den biologisch herkömmlich ausgestatteten Mitmenschen gelingt, diese vorteilhafte Eigenschaft mittels einer kulturellen Errungenschaft zu imitieren oder gar in den Schatten zu stellen.

Um an dieser Stelle noch einmal das Mäuseschwänzchenbeispiel zu strapazieren: Wären unsere hypothetischen Mäuse zu menschlichen Hirnleistungen befähigt, würden sie angesichts des Schwanzpackerbeutegreifers nicht warten, bis ihnen eine zufällige Mutation schwanzlose Nachfahren beschert. Sie würden sich als besonderen Beschneidungsritus bei Geburt die Schwänzchen amputieren und den verhungernden Schwanzpackerbeutegreifern beim Aussterben zusehen. Danach würden sie ihren Nachkömmlingen die Schwänze vielleicht wieder wachsen lassen; oder auch nicht und damit späteren Forschergenerationen Anlass geben, über den verschütteten Beweggrund des Schwanzabritus zu rätseln.

Ein paar Zeilen zur kulturellen Evolution

Die biologische Evolution wurde also beim Menschen weitgehend durch eine kulturelle Evolution abgelöst. Er musste nicht mehr warten, bis die Evolution ihn an bestehende Verhältnisse anpasste. Vielmehr passte er sich bewusst durch kulturelle Errungenschaften seiner Umwelt an und es gelang ihm sogar zunehmend, die Umwelt sich anzupassen.

Die kulturelle Evolution umfasst alles, was Menschen je erfunden und an andere Menschen über Lernprozesse weitergegeben haben. Dabei geht es nicht nur um Werkzeuge, Waffen, Behausungen, sonstige Naturbeherrschungsgeräte, ackerbauliche, viehzüchterischen oder heilkundlichen Kenntnisse, sondern auch um die Entwicklung unterschiedlicher Stammes- und Hierarchieformen, von Religionen, Philosophien, Kunst und vielem mehr.

Auch die kulturelle Evolution unterlag und unterliegt einem Survival of the Fittest. Durch Zahl der Krieger, bessere Waffen, kriegstauglichere Religionen und Herrschaftsstrukturen überlegene Stämme und Völker dominierten ihre Zeitgenossen, besiegten sie, beuteten sie aus und zwangen ihnen ihre eigenen Traditionen und Werte auf. Selbst heuten findet noch ein solcher Kulturkampf statt. Dieser wird aber inzwischen oft weniger durch Waffengewalt als vielmehr durch die Macht des Geldes und der damit bezahlbarer Medienpropaganda gewonnen. Eingeborene aus den Wäldern Neuguineas haben keine Möglichkeiten, ein vielleicht wohlschmeckendes und zugleich gesundes Getränk eigener Tradition weltweit bekannt zu machen. Der Coca Cola-Konzern schon. Dabei müssen dessen Getränke nicht mal gesund sein und besonders gut schmecken, um dennoch überall konsumiert zu werden.

Leider ist es wohl nicht unbedingt so, dass im kulturellen Survival oft the Fittest die Kulturen das Rennen gewonnen haben, die mit ihren Normen und Werten am ehesten den natürlichen Bedürfnissen des Menschen entsprachen und deren Mitglieder deshalb vielleicht besonders zufrieden und glücklich waren. Vielmehr dürfte der Veränderungsdruck und damit die Fortschrittsgeschwindigkeit in Kulturen unglücklicher Mehrheiten größer gewesen sein als in Kulturen, deren Mitglieder mit den bestehenden Lebensumständen sehr zufrieden waren und die deshalb wenig Anlass verspürten, diese zu verändern. Damit liefen aber letztere Gefahr, von „fortschrittlicheren“ Kulturen überrannt zu wurden. Unter dem sich daraus ergebenden Natur-Kultur-Konflikt leiden wir womöglich noch heute, wie beispielhaft in Kapitel VII diskutiert werden wird.

Fazit

Halten wir fest: Homo sapiens streifte rund 200.000 Jahre als primitiver Jäger und Sammler durch die Altsteinzeit. Etwa 10.000 Jahre seines Dasein verbrachte er als mit immer mehr kulturellen Naturbeherrschungsmöglichkeiten ausgestatteter Ackerbauer, Viehzüchter oder noch mit viel Körpereinsatz arbeitender Handwerker. Erst die vielleicht letzten 100 bis 50 Jahre kam er dank überwiegender Schreibtischtätigkeiten, Aufzügen, Rolltreppen, Kraftfahrzeugen und automatisierter Produktionen in den zweifelhaften Genuss, kaum noch körperlich aktiv sein zu müssen und dennoch stets einen übervollen Teller vor sich zu haben. Unsere biologische Evolution hatte also viel Zeit, unser Primaten- und Frühmenschenerbe den Erfordernissen des Jäger- und Sammlerlebens der Altsteinzeit anzupassen. In den darauf folgenden 10.000 Jahren bis heute dürfte es schon allein aus Zeitgründen nur mehr vergleichsweise geringe Änderungen unseres Genoms und damit unserer biologischen Voraussetzungen und Bedürfnisse gegeben haben. Hinzu kam, dass die kulturelle Evolution immer mehr biologische Anpassungen erübrigt hat. Auch wenn wir heute Computer bedienen, in Flugzeugen sitzen, zum Mond fliegen und alle anderen Anforderungen des modernen Lebens meistern, ist unsere Biologie immer noch weitgehend die des Jägers und Sammlers aus einer fernen Zeit. Wir sollten diesem Erbe den Tribut zollen, den es verlangt. Fangen wir mit unserem angestammten Essen an.

Kapitel II: Angestammt essen

Falsche Ernährungs- und Trinkgewohnheiten tragen maßgeblich zu vielfältigen Gesundheitsproblemen bei. Darüber herrscht weitestgehender wissenschaftlicher Konsens. Zur Frage, was eine falsche beziehungsweise gesunde Ernährung ausmacht, besteht aber bereits wieder große Uneinigkeit. Während etwa die Deutsche Gesellschaft für Ernährung (DGE) vollkornige Getreide und Getreideprodukte als die breite Basis einer gesunden Ernährung betrachtet, sieht eine noch kleine aber wachsende Gruppe von Wissenschaftlern gerade im übermäßigen Getreideverzehr ein großes Gesundheitsrisiko, das Übergewicht und die Entwicklung der Zivilisationsgeißel „Zuckerkrankheit“ (Diabetes) begünstigt. Ebenso entzweien so scheinbar einfache Fragen, wie die, ob Biokost gesünder als Konventionelles ist oder ob und wann unter welchen Bedingungen Nahrungsergänzungsmittel sinnvoll sein können, die Gelehrten.

Einigkeit herrscht dagegen wieder darin, dass es ungesund ist, über die Nahrung mehr Energie zuzuführen als unser Körper verbraucht. Denn dann werden wir zwangsläufig dick. Und Übergewicht – da besteht ebenfalls Einigkeit – ist ein großes Risiko für die Gesundheit und das Wohlbefinden. Aber wie wir eine zu hohe Energiezufuhr am erfolgversprechendsten dauerhaft reduzieren,  darüber streiten schon wieder die Geister. Ist das DGE-Mantra „weniger Fett“ wirklich die Lösung? Sind andere Strategien der Gewichtsreduktion viel versprechender und wenn ja, welche? Sollten wir unser tägliches Essen auf möglichst viele oder eher wenige Mahlzeiten verteilen und womöglich sogar hin und wieder fasten?

Warum Lehrmeinungen zum Thema Ernährung oft so unterschiedlich sind, hat neben verschiedenen Lehrtraditionen nicht zuletzt damit zu tun, dass unsere Lebensmittel nicht nur uns ernähren. Vielmehr versorgen ihre Produktion und Vermarktung inzwischen auch riesige Wirtschaftszweige. Die Nahrungsmittelindustrie interessieren nicht primär unsere Gesundheit sondern die möglichst billige Herstellung und der bestmögliche Absatz ihrer Produkte. Da auch Wissenschaftler nur Menschen sind, können sie irren und manche sind sogar käuflich. Man kann also auch aus berufenem Munde Irrtümer oder im Sinne des Auftraggebers bewusst Verzerrtes aufgetischt bekommen was Antworten zu Fragen gesunden Essens betrifft.

Doch jetzt zurück zum eigentlichen Thema. Welchen Weg zur richtigen Ernährung weist uns die evolutionstheoretische Sicht der Dinge? Die plausible These, wonach unsere Biologie immer noch die des steinzeitlichen Jägers und Sammlers ist und deshalb auch die Wegweiser für eine artgerechte moderne Ernährung in diesem Stadium der menschlichen Geschichte zu suchen sind, hat inzwischen große Popularität erlangt. Zahlreiche Bücher und Internetseiten beschäftigen sich unter dem Titel „Paleo-Diät“ oder „Steinzeitdiät“ mehr oder weniger wissenschaftlich mit dieser Thematik. Für die vorliegende Abhandlung soll erst einmal genügen, die aktuellen Ernährungsempfehlungen der DGE, die die wohl am meisten zitierte deutsche Instanz zu Ernährungsfragen ist, aus evolutionstheoretisch gestützter paläo-diätetischer Sicht kritisch zu hinterfragen. Wo finden sich Gemeinsamkeiten, wo Widersprüche und wie könnte man sie lösen?

Getreide und Getreideprodukte

In der Ernährungspyramide beziehungsweise im Ernährungskreis der DGE bilden Getreide und Getreideprodukte vorzugsweise aus Vollkorn zusammen mit Kartoffeln die Basis. „Unser tägliches Brot“ nimmt die DGE wörtlich. Zusätzlich sollten in ihrem Sinne auch Getreideflocken, Reis und aus Mehl gemachte Nudeln täglich auf den Tisch.

Historische Jäger und Sammler dürften auf ihrem Speisenplan nichts Vergleichbares gefunden haben. Wie man aus archäologischen Funden und Beobachtungen an heute noch ursprünglich lebenden Naturvölkern weiß, haben sie vielleicht in eher bescheidenem Umfang den Samen von Gräsern konsumiert. Bezüglich Energiedichte, glykämischem Index, Glutengehalt und zahlreichen anderen Inhaltsstoffen waren diese Gräsersamen aber noch weit von den Eigenschaften moderner Getreidesorten entfernt. Erst in der vergleichsweise jungen Ära der jungsteinzeitlichen Ackerbauern und Viehzüchter, die vor zehn bis zwanzigtausend Jahren begannen, die Kulturen der Jäger und Sammler in vielen Teilen der Welt abzulösen, züchteten die Menschen aus wilden Süßgräsern urtümliche Getreidesorten wie Emmer, Einkorn, Dinkel und frühe Gerste. Archäologen datieren das erste Auftreten solchen kultivierten Urgetreides für den Nahen Osten auf über 10.000 Jahre und für Europa auf etwa 7000 Jahre zurück. Selbst zehntausend Jahre sind in Dimensionen der biologischen menschlichen Evolution fast nur ein Wimpernschlag und nicht unbedingt ein ausreichender Zeitraum, der eine breite optimale Anpassung an eine neue Ernährungsform garantiert. Hinzu kommt, dass die systematische Züchtung neuer Getreidesorten erst in den letzten Jahrhunderten oder besser Jahrzehnten stattgefunden hat. Der heute den Getreidemarkt dominierende Kurzhalm-Weizen wird in Sorten angebaut, deren Körner in der chemischen Analyse ein anderes Bild ergeben als frühere Weizensorten. Unter anderem wurde der Gehalt an Gluten, ein Klebereiweiß, das die Backeigenschaften verbessert, in den letzten fünfzig Jahren stetig vermehrt. Diesen neuen Formen dürften wir uns also noch weit weniger angepasst haben als ihren Vorläufern.

Zöliakie – nur die Spitze des Eisberges der Getreideunverträglichkeiten?

Die These, wonach Getreide und insbesondere die heute verbreiteten hoch ertragreichen neue Weizensorten aus dem Blickwinkel der Evolutionstheorie keine sonderlich artgerechte (Haupt-)Ernährung sind, wird auch durch aktuelle medizinische Befunde gestützt. Nach Auskunft der Deutschen Zöliakie-Gesellschaft leiden 0,5 bis ein Prozent der Bevölkerung an Zöliakie. Dabei handelt es sich um eine durch Gluten ausgelöste entzündliche Autoimmunerkrankung des Dünndarms. Sobald Betroffene Glutenhaltiges essen, reagieren sie akut mit Durchfall und Bauchschmerzen. Bei fortgesetztem Konsum droht eine chronische Darmentzündung mit Schwund der für eine effektive Nährstoffresorption wichtigen Darmzotten. Gleichzeitig nimmt die Barrierefunktion der Darmwand ab. Von manchen Stoffen gelangt deshalb zu wenig und von anderen zu viel ins Blut. Mögliche Folgen sind einerseits Mangelerscheinungen infolge unzureichend resorbierter Nährstoffe, Vitamine, Mineralien und Spurenelemente. Andererseits können durch „undichte“ Barrieren in den Blutkreislauf gelangte aber dort eigentlich nicht hin gehörende Nahrungs- und Darmbakterienbestandteile vielfältige und teils schwere Unverträglichkeitsreaktionen in unterschiedlichsten Körperregionen hervorrufen. Als einzige aber hoch effektive Therapie gegen Zöliakie gilt ein konsequenter Glutenverzicht, was allerdings gar nicht so einfach ist. Denn Gluten steckt nicht nur im Weizen und in geringerem Umfang in den meisten anderen Getreidesorten sondern auch in allen daraus hergestellten Produkten einschließlich Bier. Zudem ist vielen Fertiggerichten Gluten als nicht immer korrekt deklariertes Bindemittel beigemengt.

Für manche getreidekritische Wissenschaftler ist die manifeste Zöliakie aber nur die Spitze des Eisberges der Getreideunverträglichkeiten. Weit häufiger seien Menschen, die mit unterschiedlichsten funktionellen Beschwerden wie Bauchgrimmen, Stuhlunregelmäßigkeiten, Blähungen, diffusem Unbehagen, Migräne, chronischer Müdigkeit, Muskel und Gelenkbeschwerden auf Gluten und andere Getreidebestandteile reagieren. Man muss nicht gleich so weit gehen wie der US-amerikanische Kardiologe und Präventivmediziner Dr. William Davis, der in seinem 2013 auf Deutsch erschienen Buch „Weizenwampe“ das namengebende Getreide für die meisten führenden Erkrankungen der westlichen Welt einschließlich psychischer Störungen verantwortlich macht. Aber dass Getreide und Getreideprodukte für viele Menschen schlechter sind als ihr Ruf, dafür spricht auch die rasante Berg- und Talfahrt, die sie unserem Zuckerstoffwechsel zumuten.

Unser tägliches Brot: Treibstoff für Heißhunger, Übergewicht und Diabetes

Führen wir uns mit dem Essen mehr Energie zu als wir durch körperliche Aktivitäten verbrauchen, wird der Überschuss in Fett angelegt. Besteht das Missverhältnis längere Zeit fort, werden wir dick. Zusätzlich zum Formmanko drohen uns Folgekomplikationen des Übergewichtes wie Typ 2-Diabetes und Bluthochdruck. Um dem zu begegnen, sollten wir uns mehr bewegen und uns weniger Kalorien einverleiben. Mehlspeisen machen Letzteres aber besonders schwer. Denn in Getreide und daraus hergestellten Produkten liegen die Kohlenhydrate hoch konzentriert zu fragiler Stärke gebündelt vor. Diese Stärke kann vom Körper schnell und leicht in Glukose (Traubenzucker) umgebaut werden. Hohe Traubenzuckerspiegel im Blut beantwortet die Bauchspeicheldrüse – solange sie das noch kann – mit einer hohen Insulinausschüttung.

Insulin ist ein unverzichtbarer Türöffner, der Glukose als Treibstoff in Muskel- und andere Körperzellen bringt. Was an Traubenzucker nicht akut gebraucht wird und auch keinen Platz mehr in den Glykogen-Kurzzeitspeichern der Muskeln findet, wird ebenfall mit Hilfe von Insulin in Depotfett umgewandelt.

Fatalerweise wirken die hohen Insulinspitzen aber auch noch appetitanregend. Denn da sie nach ihrem Aufflammen unser Blut in eine relative Unterzuckersituation treiben, bekommen wir als Gegenreaktion Lust auf Zucker- beziehungsweise Stärkenachschub. Dies erklärt, warum wir oft schon kurze Zeit nach einem üppigen Semmelfrühstück schon wieder Gier auf Süßes oder Getreidiges verspüren. Schnell verfügbare Kohlenhydrate halten also den dick machenden Teufelskreis in Schwung.

Übergewicht, verfettete Organe und volle Glykogen-Kurzzeitspeicher münden häufig in eine ausgeprägte Insulinresistenz. Der Organismus benötigt dann immer mehr Insulin, um den ins Blut gelangten Traubenzucker in Körperzellen zu schleusen. Kann die Bauchspeicheldrüse diesem Mehrbedarf an Insulin nicht mehr nachkommen, ist der Mensch zuckerkrank. Im Unterschied zum durch einen absoluten Insulinmangel bedingten Typ 1-Diabetes besteht bei diesem Typ 2-Diabetes zunächst also „nur“ ein relativer Insulinmangel. Die Insulinspiegel sind in diesem durch eine geeignete Lebensstiländerung oft noch revidierbarem Stadiums der Zuckerkrankheit zunächst meist sogar höher als bei einem Zuckerstoffwechselgesunden. Aufgrund der Insulinresistenz kann das Hormon seine Arbeit aber trotzdem nicht ausreichend erfüllen.

Die bei Insulinresistenz kompensatorisch angehobenen Insulinspiegel – der Fachmann spricht von Hyperinsulinämie – können Auswirkungen auf das sympathische Nervensystem haben und damit unter anderem den Blutdruck hoch treiben. Zudem werden anhaltend erhöhte Insulinwerte als Wachstumsfaktor für einige bösartiger Tumoren diskutiert. Es gibt also mehrere Gründe, unseren Zucker- und Insulinspiegel flach zu halten. Ein Mittel der Wahl wäre der konsequente Verzicht auf zuckerhaltige Süßwaren, Fertigprodukte und Getränke sowie ein evolutionär vorgezeichneter sparsamer Konsum von Getreidekohlenhydraten.

Low Carb: Die artgerechtere Diät gegen Übergewicht und Diabetes ?

Weißmehlprodukte lassen zucker- und Insulinspiegel stärker explodieren als Vollkornprodukte; aber auch deren Sprengkraft ist für viele Menschen noch zu hoch. Nicht zuletzt auch unter Berufung auf unser evolutionäres Erbe, macht sich in Deutschland vor allem der Münchner Ernährungswissenschaftler Professor Nicolai Worm seit etwa 15 Jahren für eine kohlenhydratreduzierte Ernährung stark. Zusammen mit mehr Bewegung, sei dies die vielversprechendste Ernährungsmodifikation um Übergewicht dauerhaft abzubauen und den Marsch zum Typ 2-Diabetes umzukehren, zu verhindern oder zumindest um viele Jahre hinauszuschieben. Worm wurde für seine Sicht der Dinge von vielen Vertretern der diabetologischen und ernährungswissenschaftlichen Zunft angefeindet. Diese wollten Übergewichtigen und Typ 2-Diabetikern Fett, aber keine Kohlenhydrate, zumindest wenn sie aus Vollkorn stammten, entziehen. Inzwischen gewinnt jedoch die Überzeugung, dass es wenig Sinn macht, Kohlenhydratstoffwechselgestörte primär mit störenden Kohlenhydraten zu füttern, auch aus den Reihen der etablierten Fachgesellschaften immer mehr Anhänger.

Übrigens: Die Anlage zur Insulinresistenz war in Zeiten knapper Nahrung, durch die die Menschheit in ihrer Geschichte immer wieder hindurch musste, ein selektiver Vorteil und ist deshalb wohl so weit in menschlichen Populationen verbreitet. Sie sicherte einen sparsameren Umgang des Organismus mit Glukose. In Zeiten permanenten Überflusses hat sich dieser ehemalige Vorteil jedoch in einen Nachteil umgekehrt. Noch mehr als wir leiden darunter offensichtlich Völker, die ihre Jäger- und Sammlergeschichte erst vergleichsweise kurz hinter sich haben. Während in Mitteleuropa derzeit etwa acht Prozent der Bevölkerung einen Typ 2-Diabetes entwickeln, steigt die Häufigkeit dieser Zivilisationskrankheit z.B. bei amerikanischen und australischen Ureinwohnern auf bis zu 50 Prozent an, sobald sie einem westlich-modernen Lebensstil frönen.

Machen Sie einen einmonatigen Kohlenhydratverzichttest!

Übergewichtige und darunter besonders solche, die von ihrem Arzt schon mal auf grenzwertige Zuckerspiegel hingewiesen worden sind, sollten sich vielleicht einfach einmal testweise in einem einmonatigen weitestgehenden Verzicht auf Süßes und auf Kohlenhydrate aus Getreide üben. Statt Brot, Reis und Nudeln mehr Gemüse, statt dem Getreidemüsli am Morgen einen Nuss-Beerencocktail. Weitergehende Anleitungen finden sie im Internet, wenn Sie in Suchmaschinen Begriffe wie „LOGI-Methode“, „Low Carb“ oder „kohlenhydratreduzierte Ernährung“ eingeben. Lassen Sie sich überraschen, wie die Pfunde oft ohne Hunger leiden zu müssen purzeln und die Blutzuckerspiegel sinken. Wer bereits medikamentenpflichtiger Diabetiker ist, sollte diesen Test nur in Absprache mit seinem Arzt durchführen. Denn womöglich müssen die Diabetesmedikamente schon bald reduziert oder können zum Teil sogar abgesetzt werden. Und selbst für Stoffwechselgesunde ohne Gewichtsprobleme kann sich ein entsprechender Test lohnen. Denn manchmal merkt man die Tatsache, dass man Getreideprodukte nicht optimal verträgt erst, wenn man sie einmal ein paar Wochen konsequent weg lässt. Schon allein die Tatsache, dass bei einer kohlenhydratarmen Ernährung die Zähne spürbar weniger zur kariesfördernden Belagbildung neigen als üblich, könnte ein erster Hinweis darauf sein, mit einer solchen Ernährungsform einen artgerechteren Weg eingeschlagen zu haben.

Gemüse und Obst

Was Gemüse und Obst betrifft, ist der gemeinsame Nenner in den Verzehrempfehlungen der unterschiedlichen relevanten Institutionen im Vergleich zu den meisten anderen Nahrungsmitteln am größten. In der Ernährungspyramide beziehungsweise im Ernährungskreis der DGE zählen Gemüse und Obst zu den täglich zu essenden Basisnahrungsmitteln. Täglich sollte ein Erwachsener demnach mindestens 400 Gramm Gemüse (entspricht drei Portionen/Handvoll) und 250 Gramm Obst (drei Portionen/Handvoll) konsumieren. Mindestens heißt, man kann auch mehr davon nehmen und besonders wer Low Carb-gemäß seinen Getreide- und Kartoffelkonsum einschränkt, sollte das auch tun.

Wenngleich auch aus der Jäger- und mehr noch aus der Sammler-Perspektive bei Gemüse und Obst eine große Übereinstimmung zur DGE konstatiert werden darf – zumindest was die Menge und Gewichtung betrifft -, sind im Detail dennoch Nachbesserungen wünschenswert. Denn die vegetarische Speisekarte, mit der wir die längste Zeit unserer biologischen Evolution konfrontiert waren und der wir uns deshalb am weitesten angepasst haben dürften, weicht in einigen Punkten erheblich ab von dem, was uns die moderne Landwirtschaft und unsere Supermärkte bieten.

Reduzierte Vielfalt

Wie wir aus Studien heute noch lebender Naturvölker wissen, ist deren Kenntnis essbarer Pflanzen groß. Ihr pflanzliches – und wie wir später sehen werden auch tierisches Nahrungsspektrum – ist und war wesentlich breiter als das des modernen Zivilisationsmenschen. Wir ernähren uns deshalb einseitiger, als es die Natur für uns vorgesehen hat. Daran ändert selbst die Tatsache nichts, dass wir unsere heutige Pflanzenkost aus aller Menschen Ländern beziehen. Schöpfen wir das pflanzliche Angebot, an das wir uns in früheren Zeiten angepasst haben, nicht mehr aus, sind zum einen unmittelbare Folgen wir uns denkbar; z.B. ein Mangel an essenziellen Pflanzenstoffen, die wir im einzelnen vielleicht noch gar nicht kennen. Zum anderen ist denkbar, dass auch unsere Darmflora unter der neuzeitlich reduzierten Vielfalt leidet und sie uns das womöglich auf unangenehme Weise spüren lässt. Doch dazu mehr im Unterkapitel „Unser Mitesser“.

Weniger Bitter- und Scharfstoffe …

„Bitter im Mund ist dem Magen gesund“. Diese alte Volksweisheit kann sich inzwischen auf wissenschaftlich nachgewiesene günstige Effekte von Bitter- und Scharfstoffen auf die Verdauung stützen. Bittere und scharfe Inhaltsstoffe aus Kräutern, Blatt- und Wurzelgemüse lassen den Speichel und die Galle fließen. Verdauungsenzyme werden verstärkt ausgeschüttet und insbesondere wird auch die Verdauung von Fett, das sonst manchmal schwer in Magen und Darm liegt, maßgeblich verbessert. Manche Scharfstoffe wirken zudem als natürliches Antibiotikum und sind unter anderem gegen Darmparasiten aktiv. Leider werden diese Umstände in der modernen Nutzpflanzenzüchtung zu wenig gewürdigt. Der Trend ging in den letzten Jahrzehnten zu süß statt bitter. Und auch die Schärfe wurde aus vielen Gemüsesorten heraus gezüchtet. Der Konsument hat es vorgeblich so gewollt. Ob er es auch gewollt hätte, wenn er ausreichend über die damit womöglich verbundenen Nachteile informiert gewesen wäre? Um den Vorwurf der Einseitigkeit vorzubeugen: Nutzpflanzenzucht bietet natürlich auch Vorteile. So konnten damit Erträge erheblich gesteigert werden und manche Pflanzen wurden erst in Zuchtformen genießbar, etwa Kartoffeln durch die Reduktion des Solanin-Gehaltes.

… dafür mehr Spritzmittelrückstände und andere Schadstoffe

Während unsere Esspflanzen an Bitterkeit, Schärfe und womöglich noch anderen, weniger auffälligen aber dennoch bedeutsamen Eigenschaften verloren haben, ist ihr Schadstoffgehalt im Zuge der industriellen Landwirtschaft dramatisch angestiegen. Zwar werden Agrarlobby und ihr zugetane Politiker nicht müde zu betonen, dass solche Belastungen weit unter der Bedenklichkeitsschwelle für die menschliche Gesundheit liegen. Ob man diesen Beteuerungen glaubt, ist eine andere Sache. Vielleicht ist ja jedes einzelne Spritzmittel für sich betrachtet unter seinem Grenzwert tatsächlich unbedenklich. Aber gilt das auch noch für die Summe aller Grenzwertunterschreitungen, die wir tagtäglich zu essen gezwungen sind. Die längste Zeit unserer Stammesgeschichte lebten wir jedenfalls spritzmittelfrei. Und ein Teil jener, die es sich leisten können, versuchen das aus Sorge um ihre Gesundheit mit Biokost auch noch heute.

Reif und trotzdem frisch?

Jäger und Sammler aßen in tropischen Gefilden das ganze Jahr und in den gemäßigten Zonen zumindest während der Vegetationsperiode einen großen Teil ihrer Pflanzenkost von der pflückenden Hand sofort in den Mund. Frische war damit garantiert. Auch wenn heute Kühlketten das gute Aussehen unseres Obstes und Gemüses konservieren, liegen zwischen Ernte und Konsum oft erhebliche Zeitspannen. So manche Vitamine und andere fragile Pflanzeninhaltsstoffe gehen dabei verloren. Manche Obst- und Gemüsesorten werden zudem oft schon im unreifen Zustand geerntet um sie auch nach längerem Transport in guter Form beim Kunden ankommen zu lassen. Das schmälert den Vitamingehalt ebenfalls. Bei der Obst- und Gemüseversorgung geht es heute also oft mehr um den Schein als das Sein, während es in der längsten Zeit unserer Geschichte vielleicht eher umgekehrt war.

Obst- und Gemüsetipps zu mehr Artgerechtigkeit

Schon ein paar kleine Verhaltensregeln können helfen, um noch etwas mehr Steinzeit = Artgerechtigkeit in unseren Gemüse und Obstverzehr zu bringen:

  • Beachten Sie die Mengenempfehlungen der DGE, also mindestens fünf Portionen Gemüse und Obst am Tag.
  • Aufgrund des vergleichsweise hohen Zuckergehaltes sollten Sie bei Obst Maß halten, während Sie bei Blatt- und stärkearmem Wurzelgemüse soviel essen können wie Sie wollen.
  • Konsumieren Sie frisches Obst und Gemüse so abwechslungsreich wie möglich. Also im Supermarkt die ganze Palette durchprobieren und bei allem bleiben, das schmeckt. Sie werden sich wundern, allein wie viele Salatsorten es gibt.
  • Rüsten Sie Ihren Pflanzenkonsum mit besonders frischen weil selbst geernteten Wildgemüsen und Wildkräutern auf. Fangen Sie beispielsweise mit einem schmackhaften Rohkostsalat aus Löwenzahn (Blatt, Blüte und Wurzel), Giersch, Gänseblümchen und jungen Brennnesseln an. Bilden Sie sich dann im Internet über Suchmaschineneingaben wie „Unkräuter essen“ fort. Noch effektiver und informativer sind Volkshochschulkurse, die inzwischen zahlreich zu diesem Thema angeboten werden. Manche werden sich wundern, wie ihr Körper mit Appetit nach Wildem, Scharfem und Bitterem verlangt, sobald er diese verschütteten Geschmacksrichtungen erst einmal (wieder) kennen gelernt hat. Aber Vorsicht: Pflücken Sie ihre wilden Esspflanzen an ungespritzen Orten und fern von Gassimeilen.
  • Kaufen Sie „Bio“, wenn sie dafür das notwendige Mehr an Geld übrig haben. Möglicherweise lässt sich der Mehraufwand ja am Benzin einsparen, nachdem Sie Kapitel III gelesen haben. Auf eine Langzeitstudie, die zeigen könnte, ob und inwieweit Ungespritzes tatsächlich gesünder ist als konventionell Angebautes, wird man aber wahrscheinlich vergeblich warten. Denn denen, die sich von einer solchen Studie was erwarten, fehlt das Geld dazu. Und die, die das Geld dazu hätten, erwarten sich von einer solchen Studie nichts. Klar sein sollte aber auch: Konventionell angebautes Obst und Gemüse zu essen ist immer noch viel gesünder als kein oder zuwenig Obst und Gemüse zu essen.
  • Mit Blick auf den Vitamingehalt ist Rohkost oft besser als Gekochtes und sollte deshalb ein wesentlicher Bestandteil unserer Speisekarten sein. Aber auch Kochen ist nicht artfremd. Der Gebrauch des Feuers ist dem Menschen einige hunderttausend, womöglich sogar schon über eine Million Jahre bekannt. Manche pflanzlichen Nahrungsmittel wurden für ihn erst durch Erhitzen verwertbar. So baut Hitze etwa Hämolysin und Phasin in unschädliche Bestandteile um. Hämolysin ist eine Substanz, die z.B. viele Speisepilze im rohen Zustand ungenießbar macht und das Eiweiß Phasin ist der Grund, warum wir die meisten Hülsenfrüchte ungekocht nicht vertragen.

Milch und Milchprodukte

Milch und Milchprodukte wie Joghurt, Quark und Käse sind laut DGE-Empfehlung ebenfalls Grundnahrungsmittel, die täglich auf den Tisch sollten. Von Anhängern der Paleo-Diät wird diesbezüglich allerdings Widerspruch laut. Denn wie Getreide, begannen Milch und Milchprodukte erst relativ spät in der Geschichte der menschlichen Ernährung eine nennenswerte Rolle zu spielen. Zwar mögen auch schon Jäger und Sammler gelegentlich ein bisschen Milch aus dem Euter oder Magen eines erlegten Wildrindes beziehungsweise -kalbes genossen haben. In größerem Umfang wurden Milch und Milchprodukte erst zu Zeiten der Ackerbauern und Viehzüchter, also längstens seit zehn bis 20.000 Jahren, konsumiert. Und dass dieser Zeitraum für viele Menschenlinien zu kurz war, um sich den neuen Nahrungsmitteln gut anzupassen, zeigt die global noch weit verbreitete Laktoseunverträglichkeit.

Laktoseintoleranz im aktuellen Wandel

Ursache der Laktoseunverträglichkeit ist, dass bei nahezu allen Säugetieren einschließlich des Menschen die Produktion des Enzyms Laktase mit dem Heranwachsen verebbt. Bereits ab dem späteren Kindesalter kann deshalb Laktose, also der Milchzucker, im Dünndarm nicht mehr gespaltet und verwertet werden. Er steht also der Energiegewinnung des Körpers nicht mehr zur Verfügung sondern gelangt unverändert in den Dickdarm, wo er von Darmkeimen vergoren wird. Dabei kommt es zu den typischen Beschwerden wie Blähungen, schmerzhaften Bauchkrämpfen und Durchfällen, die Menschen mit Milchzuckerunverträglichkeit (Laktoseintoleranz) erleiden, sobald sie Milchzucker in offener oder versteckter Form zu sich nehmen.

Bereits die frühen Viehzüchter hatten allerdings gelernt, mit diesem genetischen Mangel umzugehen. Je reifer etwa ein Käse ist, desto weniger Laktose enthält er und in Sauermilchprodukten wird von den darin enthaltenen Bakterien die Laktose zu einem erheblichen Teil bereits vergoren bevor sie Beschwerden bereitend in den Dickdarm gelangt.

Und dann passierte zumindest in Europa etwas, das zeigt, dass es unter besonders starken selektiven Bedingungen doch auch in relativ kurzer Zeit zur Dominanz einer neuen Mutation in einer Population kommen kann: Denn vor schätzungsweise sieben- bis achttausend Jahren begann sich unter europäischen Hirtenvölkern eine zufällige Genmutation durchzusetzen. Sie sorgte dafür, dass Laktase ohne Altersbegrenzung in ausreichender Menge produziert wird, um Milchzucker ohne Beschwerden im Dünndarm zu spalten und dem Körper verlustfrei als Energie zur Verfügung zu stellen. Hirten mit altersloser Milchunverträglichkeit hatten offensichtlich einen so ausgeprägten Versorgungs- und damit Überlebensvorteil, dass sie in ihren nord- und mitteleuropäischen Ursprungsgebieten relativ rasch zur Mehrheit wurden. Hier und in den vorwiegend von Auswanderern aus diesen Regionen besiedelten Teilen der Neuen Welt vertragen heute rund 90 Prozent der Menschen auch im Erwachsenenalter Laktose. Aber bereits in Südeuropa nimmt der Anteil der Milchzuckertoleranten schon wieder ab und weltweit ist Milchzucker für rund 75 Prozent der Erwachsenen immer noch ein Problem.

Milchdebatte ist am Kochen

Darf man aus evolutionsbiologischer Sicht davon ausgehen, dass zumindest für den Teil der Menschheit, die sich der Laktose angepasst hat, sie verträgt, Milch tatsächlich das Elixier ist, als das sie die Werbung uns nahe bringt? Nicht unbedingt. Denn möglicherweise gibt es noch andere Hürden zwischen uns und der Milch. Hürden, die unsere Evolution vielleicht weniger überwunden hat als die der Laktoseunverträglichkeit. Tatsächlich mehren sich Befunde, die der Milch den einen oder anderen ehedem zugeschriebenen Bonus rauben. So zitierte Focus Online im Oktober 2014 eine in einem renommierten internationalen medizinischen Fachblatt erschienene Studie an über 100.000 schwedischen Männern und Frauen im Alter von 39 bis 79 Jahren. Ins Visier genommen war der Zusammenhang zwischen Milchkonsum und Gesundheit. Im Verlauf einer durchschnittlich elf- (Männer) bis zwanzigjährigen (Frauen) Beobachtungszeit hatten Menschen, die täglich mehr als drei Gläser Milch tranken, ein signifikant höheres Sterberisiko als Menschen, die täglich weniger als ein Glas Milch tranken. Und auch Knochenbrüche infolge einer Osteoporose waren bei Vielmilchtrinkern häufiger als bei Wenigmilchtrinkern. Dabei galt Milch doch aufgrund ihres hohen Kalziumgehaltes eigentlich als osteoporoseprotektiv.

Die Autoren der Studie räumen allerdings ein, dass ihre Untersuchung nicht geeignet ist, die Kausalität des Zusammenhangs zu belegen. Die Geburtenrate sinkt und Störche werden weniger. Niemand wird allein daraus ernsthaft einen Beweis ableiten, dass Störche etwas mit der Geburtenrate zu tun haben. Möglicherweise waren unter den Vielmilchtrinkern gerade solche, denen ein hohes familiäres Osteoporoserisiko bekannt war und das sie mit einem hohen Milchkonsum bannen wollten.

Andere Untersuchungen wollen Kuhmilch wiederum als Risikofaktor für Typ 1-Diabetes und weitere Autoimmunerkrankungen ausgemacht haben. Aber auch dazu weiß man noch nichts Genaues. Solange noch so viele Fragen zur Milch unbeantwortet sind, sollte man sich als kritischer Konsument auf folgenden Minimalkonsens einigen, den man auch aus evolutionstheoretischer Perspektive unterschreiben kann:

  • Milch und Milchprodukte sind suspekt genug, um einen einmonatigen Auslassversuch zu unternehmen; dabei auch an versteckte Laktose und andere Milchbestandteile wie Kasein in Fertigprodukten denken. Einige, denen es unter einem solchen Totalverzicht spürbar besser geht, wird es erfahrungsgemäß dennoch schwer fallen, auf alle bislang geliebten Käsesorten und sonstige Milchprodukte zu verzichten. Dann könnte in einer zweiten, seriell selektiven und deshalb möglicherweise längeren Testperiode versucht werden, herauszufinden, ob bereits der Verzicht auf einige wenige Milchprodukte beziehungsweise eine Mengenbeschränkung ausreicht, um körperliches Wohlbefinden und Konsumwünsche unter einen Hut zu bringen.
  • Milch ist nicht gleich Milch. Es gibt Stimmen, die weniger die Milch an sich als eine artfremde Ernährung ansehen. Erst neuzeitliche Aufbereitungsmaßnahmen wie insbesondere eine unnötige Homogenisierung machten sie dazu.
  • Auch Haltung und Fütterung hat einen Einfluss auf die Milchzusammensetzung. So enthält die Milch von Rindern aus Weidehaltung deutlich mehr Omega-3-Fettsäure als die von mit Kraftfutter gemästeten Stallkühen. Doch dazu mehr im nächsten Unterkapitel.
  • Milch, egal wie hochwertig sie sein mag, ist kein Getränk zum Durst löschen. Schon allein ihr Fett und damit Energiegehalt macht sie dafür untauglich.

Fleisch, Fisch, Geflügel und Eier

Was diese tierischen Lebensmittel betrifft, rät die DGE zum Maßhalten. Ihren Empfehlungen zufolge sollte ein Erwachsener wöchentlich (!) 300 bis 600 Gramm (fettarmes) Fleisch inklusive magerer Wurst verzehren. Zusätzlich sollten wöchentlich 80 bis 150 Gramm fettarmer Seefisch und etwa 70 Gramm fetter Seefisch auf den Tisch. Wem sie schmecken, erlaubt die DGE zudem wöchentlich drei Eier pur oder verarbeitet. Warum nicht mehr, ist wohl ein Relikt aus der überholten Zeit, als man Eiern fälschlicherweise die größte Schuld an erhöhten Cholesterinspiegeln im Blut gab. Fisch und Geflügelfleisch („weißes Fleisch“) stuft die DGE gesünder ein als Fleisch von Nutzsäugetieren wie Rind und Schwein („rotes Fleisch“). Die DGE beruft sich dabei auf Studien, die Konsumenten überwiegend weißen Fleisches ein niedrigeres Herzinfarkt- und Darmkrebsrisiko bescheinigen als Konsumenten überwiegend roten Fleisches. Welche Impulse und Empfehlungen könnte uns zu diesen Nahrungsmitteln der Blick zurück auf unsere Stammesgeschichte bieten?

Von kleinen zu großen Proteinquellen

Bevor die Menschen beziehungsweise ihre Vorfahren Jagdwaffen erfunden und den Gebrauch des Feuers beherrscht hatten, lebten und ernährten sie sich ähnlich wie Tiere. Auf dem Speiseplan stand alles, was Mutter Natur Nahrhaftes zu bieten hatte und was der Mensch mit seinen im Vergleich zu Raubtieren eingeschränkten körperlichen Fähigkeiten finden und erwischen konnte: Früchte, Samen, Wurzeln, Kräuter und Nüsse. Proteinquellen tierischen Ursprungs beschränkten sich auf gelegentliche Überbleibsel der Beute von Großraubtieren, auf nicht allzu flinkes Kleingetier wie Insekten, Würmer, Schnecken, Kriechtiere, Fische, Eier wilder Vögel und deren noch nicht flüggen Jungen. Ein primitiver Werkzeuggebrauch wie man ihn schon bei Menschenaffen beobachten kann, erlaubte unseren Vorfahren, auch harte Nüsse, Muscheln und gefundene Knochen zu knacken oder Termiten aus ihren Höhlen zu angeln. Was genießbar war, zeigte den Frühmenschen entweder ein zu ihren tierischen Wurzeln zurück reichender Instinkt oder die tradierten Erfahrungen ihres sozialen Umfeldes. Da konnte durchaus mal etwas schief gehen. Beispielsweise, wenn in einem neu betretenen Lebensraum wohl anzusehende und –schmeckende Beeren wuchsen, die aber dem menschlichen Verdauungstrakt nicht bekamen. Man lernte dann jedoch schnell aus eigenen und fremden Fehlern und mied für alle Zukunft die unbekömmlichen oder gar tödlichen „Speisen“.

Die meisten größeren Wirbeltiere blieben der Speisekarte unserer Ahnen noch verwehrt. Sie konnten sie schlichtweg nicht erwischen oder überwältigen und konsumierten sie höchstens in Form von Aas. Das änderte sich jedoch mit der Erfindung einfacher aber dennoch effektiver Jagdwaffen.

Die Anatomie des menschlichen Schulterskeletts zeichnet sich durch eine enorme Wurftauglichkeit aus, die von keinem anderen Primaten auch nur annähernd erreicht wird. Die körperlichen Voraussetzungen zum Speerwurf werden bereits dem Homo erectus, der der Auswertung fossiler Funde zufolge schon vor zwei Millionen Jahren lebte, zugeschrieben. Ab wann unsere Vorfahren den Speer als erste Distanzwaffe, mit der selbst Großtiere wie Wildrinder und Mammuts zu Fall gebracht werden konnten, dann aber tatsächlich gebrauchten, ist noch nicht sicher geklärt. Archäologen datieren das Alter bislang gefundener Speerfragmente auf bis zu 500.000 Jahre zurück. Und mindestens so lange dürfte auch Fleisch größerer Säugetiere ein wesentlicher Bestandteil menschlicher Ernährung sein.

Roh oder schon gegart?

Forscher um den US-amerikanischen Archäologen Professor Francesco Berna aus Boston sind überzeugt, dass unsere Vorfahren schon vor etwa einer Million Jahren Feuer kontrolliert nutzten. Dazu verweisen sie auf wiederum Homo erectus zuordenbare Überreste von Lagerfeuern, aus denen sie Knochen- und Pflanzenasche zur chemophysikalischen Altersbestimmung isolieren konnten.

Gegartes dürften unsere Ahnen allerdings schon lange bevor sie Feuer selbst entfachen oder zumindest konservieren konnten, gegessen haben. Wald und Steppenbrände, etwa ausgelöst durch Blitzeinschläge oder Vulkanausbrüche, gab es in der Erdgeschichte schon immer. Und unsere stets auf Nahrungssuche befindlichen frühen Vorfahren dürften die Gelegenheit, im Anschluss an solche Ereignisse die verbrannte Erde nach im Feuer zahlreich umgekommenem und geschmortem Getier zu durchforsten, sicherlich genützt haben. Wahrscheinlich sind sie schon dabei auf den Geschmack gebratenen Fleisches gekommen, den sie dann später mit der Beherrschung des Feuers gezielt bedienen konnten.

Artgerechte Ernährung mit aktuellem Verfallsdatum

Fleisch und das auch noch gegart ist also mit Sicherheit schon wesentlich länger ein wichtiger Bestandteil menschlicher Ernährung als etwa Getreide- und Milchprodukte. Unsere Evolution sollte uns also gut daran gewöhnt haben. Zu fragen bleibt allerdings, inwieweit das heute angebotene Fleisch noch dem evolutionär bewährten Standard der Jäger und Sammler gerecht wird.

Wenn wir die lange Geschichte unseres Fleischerwerbes Revue passieren lassen, liegt die entscheidende Zäsur wohl nicht in der Domestikation. Alle historischen und auch die heutigen Haustierrassen gehören immer noch der gleichen Art an wie die Wildtiere, denen sie entstammen. Wild- und Hausschwein, Wild- und Hausrinder, mufflonartige Wild- und Hausschafe, Grau- und Hausgans, Stock- und Hausente usw. sind problemlos untereinander kreuzbar und ihre Jungen sind ebenfalls wieder zur Nachkommenschaft fähig. Das beweist ebenso sicher wie genetische Analysen die Zugehörigkeit zur gleichen Art. Und die längste Zeit ihrer Geschichte lebten Haustiere fast genauso wie ihre wilden Ahnen. Die Rinder-, Schaf- und Ziegenherden der Wanderhirten zogen noch viele tausend Jahre über die gleichen Biotope wie ihre wilden Verwandten. Und auch die Haltung auf eingezäunten Weiden wie sie bis zu Mitte des letzten Jahrhunderts die Regel war, hatte noch erhebliche Anteile tierartgerechter Elemente. Unser Hausgeflügel durfte bis vor kurzem ebenfalls noch leben wie es ihm entsprach. Hühner scharrten im Freien, Gänse und Enten watschelten über Wiesen, schwammen im Dorfteich und bezogen einen erheblichen Teil ihrer Ernährung aus angestammten Ressourcen. Der große Bruch kam mit der Industrialisierung der Landwirtschaft, die so richtig erst vor einigen Jahrzehnten in Schwung kam.

Der Sündenfall: Ohne Mitleid in die Mitleidenschaft

Die moderne Massentierhaltung schickt unser Nutzvieh in die Hölle. Lebewesen, denen die Natur bestimmt hatte, in Herden über Wiesen und durch Wälder  zu streifen, fristen ein jämmerliches Dasein an kurzen Ketten und auch der viel gerühmte moderne Laufstall ist kein Rinderhimmel. Statt ihrer artgerechten Nahrung wie insbesondere abwechslungsreiches Gras, Kräuter und Heu bekommen Rinder eiweißdichtes Kraftfutter auf Soja- und Getreidebasis. Vor der BSE-Krise erhielten diese reinen Pflanzenfresser auch noch aus Schlachtabfällen produziertes Tiermehl, was letztendlich diese Krise verursachte.

Schweine, an sich klüger als Hunde und mit entsprechenden Spieltrieben ausgestattet, quälen sich durch die neuzeitliche Fleischproduktion ihrem Ende entgegen. Sie können sich in engen Einzelboxen kaum umdrehen und in Gemeinschaftsställen fehlt der Raum, dem Schwanzabbeißen und sonstigem „Mobbing“ ranghöherer Leidensgenossen auszuweichen. Stresshormone überfluten ihr Fleisch. Gelegenheit zum Wühlen, die schweinische Lieblingsbeschäftigung schlechthin, gibt es für Billigfleischlieferanten nicht.

Geflügel geht es eher noch schlechter als unseren vierbeinigen Nutztieren. Entweder vegetieren sie in engen Gitterkäfigen dahin oder sie stehen dicht an dicht in der Bodenhaltung. Wasser zum Schwimmen bekommen Gänse und Enten aus der Intensivhaltung nie zu sehen. Sonnenlicht ist für die meisten zeitgenössischen Stallkreaturen ebenfalls Mangelware.

Eine derart quälerische Tierhaltung wäre vor wenigen Jahrzehnten noch undenkbar gewesen. Nicht weil die Menschen damals humaner waren, sondern sie hatten einfach nicht die Mittel, Tiere unter solchen Umständen überhaupt am Leben zu erhalten. Ohne Antibiotika und andere Errungenschaften der modernen Veterinärmedizin wären sie den Bauern unter heutigen Aufzuchtbedingungen weggestorben bevor sie ein rentables Schlachtgewicht erreich hätten.

Ist die Vorstellung weltfremd, anzunehmen, dass Fleisch, Eier und Milch von derart artungerecht gehaltenen Tieren dem Menschen keine artgerechte Nahrung sein kann? Unbewegtes Fleisch, krankes Fleisch, mit Tierarzneimittelrückständen durchsetztes Fleisch, mit antibiotikaresistenten Salmonellen kontaminiertes Fleisch.

Die meisten konventionellen Suppenhühner lassen sich nur verkaufen, weil sie bereits sauber gerupft und gefrierfrostig weichgezeichnet in Kühltruhen liegen; von Werbedesignern entworfene Bilder gaukeln uns ein federprächtiges und bis zu seinem Ende glückliches Geschöpf vor. Könnte man dagegen sehen, wie diese ausrangierten Legehennen in ihren letzten Tagen ausgesehen haben, würden die meisten Konsumenten zurück schrecken. Selbst die Mitleidlosen. Es würde sie vor den oft nur mehr lückenhaft befiederten, räudig anmutenden Vögeln schlichtweg grauen.

Rinder aus artgerechter Haltung mit lachshaften Omega-3-Fettsäure-Spiegeln

Während die Vorstellung, wonach Tierprodukte aus artgerechter Haltung für den Menschen gesünder sind als solche aus konventioneller Massenproduktion vielfach noch eine theoretisch plausible Glaubenssache ist, scheint sie zumindest bei Rindfleisch bereits wissenschaftlich gesichert. Tiere aus Weidehaltung, die sich praktisch ausschließlich von Gras und Heu ernähren, liefern ein Fleisch, dessen Gehalt an herzschützenden und antientzündlichen Omega-3-Fettsäuren ähnlich hoch ist wie bei den dafür gerühmten fetten Kaltwassermeeresfischen. Aus gleichen Gründen besticht auch ihre Milch durch einen hohen Omega-3-Fettsäurengehalt. Bei anderen Wiederkäuern wie Schafen und Ziegen sollen unter argerechter Weidehaltung die Omega-3-Fettsäuren im Fleisch ebenfalls ansteigen und Wild spielt ohnehin in dieser Liga.

Wichtig zu wissen ist, dass in diesem Zusammenhang das Attribut Bio allein noch nicht für besonders gesundes, Omega-3-Fettsäuren-reiches Fleisch bürgt. Denn Rindfleisch kann das Biosiegel auch dann bekommen, wenn die Rinder mit zwar biologisch angebautem aber für sie dennoch wenig artgerechtem Getreide gemästet werden. So wurden etwa im Zusammenhang mit seit den 1980er-Jahren zunehmend registrierten EHEC-Infektionen bei Menschen begründete Vermutungen laut, wonach die Verfütterung von Getreide an Rinder hierfür ursächlich sein könnte. Denn das im Vergleich zu Gras und Heu wesentlich stärkehaltigere Getreide fördert im Rindergedärm nachweislich die Entwicklung auch für den Menschen gefährlicher Kolibakterien-Stämme, so genannter enterohämorrhagischer E. coli (EHEC).

Mehr oder weniger Fleisch

Nach Schätzungen des Bundesmarktverbandes für Vieh und Fleisch sowie des statistischen Bundessamtes essen die Deutschen im Schnitt gegenwärtig rund 60 Kilogramm Fleisch pro Person und Jahr. Sie verzehren damit durchschnittlich rund doppelte soviel wie die DGE als Obergrenze empfiehlt. Mit knapp 40 Kilogramm entfällt der Löwenanteil auf Schweinefleisch. Geflügel, das die DGE als gesündere Alternative zum „roten Fleisch“ der Säugetiere sieht, macht nur etwa ein Sechstel des gesamten Fleischkonsums (ohne Fisch) aus. Schlägt sich die evolutionstheoretische Sicht der Dinge hier eher auf die Seite der DGE oder gesteht sie uns als Nachfahren von Jägern und Sammlern einen auch maßloseren Fleischkonsum zu? Die Argumente sprechen mehrheitlich wohl zugunsten eines maßvollen, DGE-konformen Fleischverzehrs:

  • Die Anatomie seines Gebiss, seines Verdauungstraktes und die Art seiner Verdauungsenzyme zeichnen den Menschen laut wissenschaftlicher Mehrheitsmeinung als Allesesser mit Tendenz zum Pflanzenesser aus. Fleisch ist demnach ein wichtiger aber nicht der Hauptbestandteil seiner Ernährung.
  • Dies korrespondiert mit ernährungswissenschaftlichen Erkenntnissen, wonach ein zuviel an Fleisch den Organismus zu übersäuern droht, während eine vorrangig pflanzliche Kost für eine gesündere basische Dominanz sorgt.
  • In einem direkten Vergleich heute noch lebender Jäger und Sammlerpopulationen zeichnen sich die eher einer pflanzlichen aber nicht völlig fleischlosen Ernährung anhängenden Kitavi gegenüber den überwiegend Fleisch und Fisch essenden Inuits durch eine deutlich höhere Lebenserwartung aus. Zugegebenermaßen schränkt die Tatsache, dass sich ein Inselvolk aus dem tropischen Papua-Neuguinea noch in vielen anderen Punkten als der Ernährung von Polarbewohnern unterscheidet, die Aussagekraft dieses Vergleiches ein.

Geflügel vor Säugetierfleisch, Fisch vor Geflügel – und Insekten vor Fisch?

Nach Erkenntnissen der etablierten Ernährungslehre gilt Fisch gesünder als Geflügel und das Fleisch von Geflügel gesünder als das von Rind und Schwein. Auch wenn zu dieser Hierarchie das letzte Wort möglicherweise noch nicht gesprochen ist, könnte sie durch unsere Evolution plausibilisiert werden. Wie bereits oben angesprochen, standen Vögel und Fische als wenig wehrhafte lebende Proteinquellen schon früher und damit deutlich länger denn wehrhafte große Säugetiere auf unserem Speisezettel. Und je länger unser Organismus entwicklungsgeschichtlich mit einem Nahrungsmittel konfrontiert war, desto besser sollte er sich ihnen  – evolutionären Prinzipen folgend – angepasst haben.

Wer allerdings in diesem Sinne A sagt, muss im gleichen Sinne B sagen. Denn noch wesentlich länger als Fische und Vögel standen  viele kleine Eiweißlieferanten wie Insekten und ihre Larven, Schnecken, Würmer und alle möglichen Kriechtiere auf unserer prähistorischen Speisekarte. Nahrungsmittel, die wir ohne Unterbrechung lange vorher, die gesamte Jäger- und Sammlerperiode hindurch und zumindest teilweise auch noch danach genossen haben. Disqualifiziert zum ungenießbaren Ekelzeug wurde diese Urnahrung erst im fortgeschrittenen Prozess der Zivilisation. Es könnte eine interessante Doktorarbeit für Absolventen der Ernährungswissenschaften oder der Evolutionsanthropologie sein, herauszufinden, welchen evolutionär bewährten ernährungsphysiologischen Nutzen wir womöglich aufgegeben haben, als wir etwa Insekten und ihr Chitinskelett aus unserem Essen verbannten. Falls Sie das zu abwegig finden, googeln Sie doch beispielsweise mal „Chitosan“.

Fazit aus der vorangegangenen Fleischdiskussion

  • Fleisch bereichert seit vielen 100.000 Jahren den menschlichen Speiseplan. Wir sollten uns seinem Verzehr also gut angepasst haben.
  • Fraglich ist, inwieweit das heute in der Tiermassenproduktion erzeugte Fleisch noch unseren evolutionär erworbenen Vorgaben entspricht.
  • Fleisch von artgerecht gehaltenen Tieren ist deshalb auch aus evolutionstheoretischer Sicht gesünder einzuschätzen als Billigfleisch aus der agrarindustriellen Massentierhaltung. Wer sich entsprechende Qualität leistet, dient damit wahrscheinlich dem eigenen und ganz sicher dem tierischen Wohl.
  • Der deutlich höhere Preis für artgerecht erzeugtes Fleisch kann zumindest teilweise durch eine Reduktion des Fleischkonsums kompensiert werden. Lieber weniger aber dafür besseres Fleisch ist wohl eine unter Ernährungswissenschaftlern und Evolutionsbiologen mehrheitsfähige Devise.
  • Für die Einschätzung der DGE, wonach Fisch und Geflügel zur menschlichen Ernährung gesünder sind als „rotes Fleisch“ von Rindern, Schweinen und anderen Nutzsäugern, könnte es sogar auch eine evolutionstheoretische Begründung geben: Wir konsumieren erstere schlichtweg schon länger.
  • Wurst ist ein evolutionär noch vergleichsweise wenig erprobtes Nahrungsmittel und auch aus aktuellem Anlass (Googeln Sie „Wurst als Krebsrisiko“) sollte Fleisch in dieser Form eher sparsam genossen werden. Als suspekt gilt vor allem das aus Gründen der Konservierung und „Aufhübschung“ zugesetzte Nitritpöckelsalz.

Fette und Öle

Öle und Fette sind nicht nur bedeutsame Energie- und Geschmacksträger sondern auch eine Quelle und eine Verwertungsvoraussetzung für fettlösliche Vitamine. Zur richtigen Art und Menge von Ölen und Fetten schwelt ein heftiger Wissenschaftsstreit mit teilweise völlig konträren Thesen. Während die DGE auf einen sparsamen Umgang mit Ölen beziehungsweise Fetten pocht und insbesondere in tierischen Fetten eine Gefahr für Körpergewicht, Herz und Gefäße sieht, erhebt etwa Professor Nicolai Worm aus seiner LOGI-Perspektive Einspruch. Die dank eines reduzierten Kohlenhydratverzehrs eingesparten Kalorien erlaubten ein entsprechendes Mehr an Fett, dass zudem besser sättige. Auch läge inzwischen eine große Metaanalyse vor, die den aus früheren Studien abgeleiteten Zusammenhang zwischen dem Verzehr tierischer Fette und dem Herzinfarktrisiko nicht bestätigen konnte.

Hilft uns in dieser unentschiedenen Situation der lange Blick zurück weiter? Die alten Jäger- und Sammlergesellschaften hatten noch nicht die Möglichkeiten, Fette und Öle isoliert herzustellen um sie dann für ihre Nahrungsmittelzubereitung zu nutzen. Ihre Fettzufuhr wurde unmittelbar über öl- und fetthaltige Nahrung geliefert. Wichtige natürliche Öl- und Fettquellen waren etwa Nüsse und andere ölhaltige Samen, Tierhirn, Knochenmark, fetter Fisch und fettes Fleisch. Da selbst die meisten erklärten Anhänger von Steinzeitdiäten nicht mehr auf die kulturell-kulinarischen Errungenschaften von neuzeitlichen Fetten- und Ölen verzichten wollen, bedient man sich einer anderen Strategie, um unsere Ahnen dennoch als Tippgeber zu gebrauchen.

Das Omega-3-zu Omega-6-Fettsäuren-Verhältnis der Jäger und Sammler

Die mehrfach ungesättigten Fettsäuren Omega-3- und Omega-6-Fettsäuren hatten in populären Ernährungsratgebern lange Zeit das beste Image. Inzwischen weiß man, dass es weniger auf die absoluten Mengen dieser Fettsäuren als vielmehr auf ihr Verhältnis ankommt. Ernährungsanalysen heute noch lebender Jäger und Sammler ermittelten in deren Kost eine Omega-6-zu Omega-3-Fettsäurenrelation von 2:1 bis 1:1. In der durchschnittlichen Zivilisationskost beträgt es dagegen 10 bis 20:1. Dieses Missverhältnis ist nicht nur aus Herzschutzgründen bedenklich. Unter anderem wird es auch für die Zunahme chronisch entzündlicher Erkrankungen verantwortlich gemacht. Das erscheint plausibel, denn der Körper nutzt Omega-6-Fettsäuren zur Produktion proentzündlicher Botenstoffe. Omega-3-Fettsäuren sind dagegen Ausgangsbasis für die antientzündlichen Gegenspieler. Wichtig wäre demnach, einerseits die Zufuhr von Omega-6-Fettsäuren zu drosseln. Entsprechend müssten  etwa Distelöl (Omega-6 zu Omega-3-Verhältnis 148:1), Traubenkernöl (138:1) und Sonnenblumenöl (122:1) vom Tisch. Andererseits ist die Zufuhr von Omega-3-Fettsäuren zu steigern. Die, die sich soweit einig sind, streiten jetzt aber wieder darüber, ob an Omega-3-Fettsäuren reiche Öle pflanzlichen Ursprungs wie Rapsöl (2:1), Hanföl (3:1) und Leinöl (1:4) einen vergleichbaren Nutzen haben wie Omega-3-Fettsäuren, die von fettem Kaltwasserfisch oder Fleisch aus Weidehaltung geliefert werden.

Zur Salatzubereitung wird auch in der steinzeitlich angehauchten modernen Küche auf hochwertiges Olivenöl, das hauptsächlich aus einfach ungesättigten Fettsäuren besteht, gesetzt. Zum Backen und Braten gilt dagegen aus dem Fruchtfleisch der Kokosnuss gepresstes naturreines Kokosöl als paläodiätetischer Renner. Es setzt sich vorrangig aus ebenso lagerungs- wie hitzestabilen kurz- und mittelkettigen Fettsäuren zusammen. Als entscheidender Vorteil dieser beiden Öl-Alternativen wird nicht zuletzt gewertet, dass ihr Gebrauch keinen nachteiligen Einfluss auf das Omgega-6-Omega-3-Fettsäurenverhältnis hat.

Süßigkeiten, Kohlenhydratchips und Fertiggerichte

Während also zu vielen Ernährungsfragen noch der Expertenstreit lodert, gibt es eine Reihe von Nahrungsmitteln, die eigentlich alle Ernährungsfachleute – sofern sie nicht gerade in deren Herstellung und Vertrieb involviert sind – weitgehend übereinstimmen ablehnen oder bestenfalls als streng rationierte „Genussmittel“ gestatten: Dickmachende, diabetogene und zahnzerstörende Süßigkeiten, gleichermaßen schädliche Kohlenhydratchips, -flips und –salzstangen sowie mit Billigfetten, Zucker, Salz, künstlichen Geschmacksverstärkern, Farb- und Konservierungsstoffen, Bindemitteln, Backhilfen und sonstigem nicht artgerechtem Unrat ungesund überfrachtete Fertiggerichte. Wer jeden Tag drei Schoko-Karamell-Riegel verzehrt, das Ganze mit einem Liter Zuckerlimonade hinunterspült und seine Hauptmahlzeiten mit Fertigpizzas & Co bedient, geht damit ein Gesundheitsrisiko ein, das womöglich das eines ernährungsbewussten Rauchers weit übertrifft. Der Tag könnte kommen, an dem auch Zuckerbomben mit Hinweisen wie „der übermäßige Verzehr dieses Snacks gefährdet Ihre Gesundheit“, illustriert mit Schockbildern diabetesbedingter Fußamputationen, versehen sein müssen. Bislang konnte die Lobby schädlicher Unnahrungsmittel allerdings sogar Ampelsysteme oder Smileys abwenden, die dem Verbraucher die Unterscheidung in gesunde und weniger gesunde Kost erleichtern sollten.

Wissen knickt leicht ein vor der Macht der evolutionären Prägung

Warum wir Süßigkeiten, Zuckergebäck und anderes Junkfood so lieben und trotz besseren Wissens in uns hineinstopfen, hat nahe liegender Weise auch mit unserer Vergangenheit zu tun. Denn Süßes, Energiedichtes und leicht Verdauliches hat durchaus seine Vorteile. Aber eben nur dann, wenn es die Natur in streng rationierter Form zur Verfügung stellt. Den Honig wilder Bienen mussten unsere Vorfahren lange suchen. Waren sie fündig, taten sie gut daran, möglichst viel des energiereichen Vitamin- und Mineralspenders in sich hineinzustopfen.  Um das automatisch sicher zu stellen, mussten ihre Geschmacksnerven bei Süßem „toll“ ans Gehirn melden. Der gleiche Mechanismus funktioniert auch noch heute. Während aber bei Jägern und Sammlern die nächste Süßigkeitenration in den Sternen stand, steht sie bei uns unbegrenzt und jederzeit zugänglich im Supermarktregal. Ist die „widernatürliche Selbstbeherrschung“ zu schwach, kann das fatal werden.

Nichts ist oft einfacher als wenig

Menschen mit Schwächen für Süßes,  für salziges Knabbergebäck oder ungesunde Fertiggerichte (fast alle billigen Fertiggerichte sind ungesund und teure oft auch) sollten spätestens dann die Reißleine ziehen, wenn Gewicht und/oder Blutzuckerwerte höher liegen als es der Hausarzt oder der Lebenspartner gut findet. Dann ganz auf all das Überflüssige und Falsche zu verzichten, fällt erfahrungsgemäß oft leichter als den Konsum nur einzuschränken. Das hat mit dem Blutzucker-Insulinspitzen-Teufelskreis zu tun wie Sie ihn bereits zum Ende der Getreidekost-Erörterung kennen gelernt haben. Wenn Sie naschen wollen, greifen sie besser zu Nüssen, Obstschnitten und anderem Rohkost-Fingerfood.

Das gesündeste aller Getränke: Wasser

Ohne Nahrung kann der Mensch mehrere Wochen überleben, ohne Wasser dagegen nur wenige Tage. Wir bestehen zu etwa 70 Prozent aus Wasser und täglich verlieren wir über die Harnausscheidung und die Haut etwa 2,5 Liter davon; je nach Anstrengung, Luftfeuchtigkeit und Umgebungstemperatur mal etwas weniger und mal etwas mehr. Was rauskommt, muss auch wieder rein. Etwa einen Liter nehmen wir mit dem Wassergehalt von Lebensmitteln auf, der Rest muss getrunken werden. Wasser zählen ist dabei weniger notwendig als noch vor wenigen Jahren oftmals behauptet wurde. Die meisten Menschen werden rechtzeitig und in ausreichendem Umfang durch ihr Durstgefühl ans Trinken erinnert. Vor allem im Alter ist darauf dann aber doch nicht immer Verlass. Hier kann es angemessen sein, sich am Morgen eineinhalb Liter Wasser abzufüllen, die am Abend ausgetrunken sein sollten.

Fruchtsäfte überfordern unsere Jäger- und Sammlerbiologie

Das einzige wirklich artgerechte Getränk für praktisch alle Lebewesen ist Wasser. Pur und ohne Kohlensäure. Da macht der Mensch keine Ausnahme. Aus der Leitung ist es auch noch unschlagbar billig. Was Schadstoffbelastungen betrifft, pochen die Kontrollbehörden hierzulande bei Leitungstrinkwasser sogar auf strengere Grenzwerte als bei Mineralwasser. Über den erlaubten Chlorgehalt könnte man allerdings vielleicht ein bisschen streiten. Viele deutsche Wasserwerke kommen aber ganz ohne dieses Desinfektionsmittel aus.

Wasser mag natürliche Mineralien und Spurenelemente enthalten, aber keine Energie. So ist es unser Körper seit Urzeiten gewohnt. Schmuggeln wir ihm Energie ins Getränk, hat der Organismus keinen zuverlässigen Sensor dafür. Wer genug isst und dazu seinen Durst mit Obstsäften oder Bier stillt, gerät deshalb rasch in einen Energieüberschuss. Schon ein kleines Glas Apfelsaft (0.2 l) kann den Zucker von fünf Äpfeln enthalten. Das sind rund 20 Gramm. Bei einem Liter sind es dann schon 100 Gramm. Überflüssige Energie, die schnell als Fett gespeichert wird. Ein Liter naturreiner Traubensaft überflutet uns sogar mit 150 Gramm Zucker und übertrifft damit gezuckerte Limonaden und Colagetränke. Deren Zuckergehalt liegt auf Apfelsaftniveau. Gegen voreilige limonadenfreundliche Schlussfolgerungen gibt es allerdings ein geschmacklich überzeugendes Argument, wie es auf den nächsten Zeilen zu lesen ist.

Je verdünnter umso besser

Am gesündesten wäre also energieneutrales pures Wasser. Als Zugeständnis an unsere kulturell verwöhnten Geschmacksnerven lässt sich allerdings über Schorlen verhandeln. Dabei gilt selbstverständlich, je verdünnter, umso besser. Mischt man Apfelsaft im Verhältnis 1:1 mit Wasser, haben Sie in einem 0,2 l-Glas immerhin noch 10 Gramm Zucker. Mischen Sie einen Teil Apfelsaft mit vier Teilen Wasser, hätte Ihr Glas Schorle nur noch 4 Gramm Zucker. Das ist hinnehmbar. Eine 1:4 verdünnte Cola hätte zwar auch keinen höheren Zuckergehalt, schmeckt aber im Gegensatz zur entsprechend hoch verdünnten Apfelsaftschorle mehr als bescheiden. Dann vielleicht doch lieber völlig gewichtsneutrale Geschmackszugaben wie Tee, Kräutertees, Kaffee oder ein paar Spritzer Zitronensaft.

Und Alkoholisches?

Alkohol ist zweifellos ein Gift, dessen Stärke mit der Dosis zunimmt. Dennoch kann uns unsere Leber von erstaunlich großen Alkoholmengen entgiften. Mit dieser Fähigkeit hat die Evolution bereits unsere tierischen Vorfahren bestückt. Denn wer hier versagte, fiel schnell vergorenen Früchten zum Opfer und starb bereits lange vor unserer Zeitrechnung aus. Vergorene Früchte gab es allerdings meist nicht das ganze Jahr und nach einem prähistorischen Alkoholexzess hatte die Leber viel Zeit, sich wieder zu erholen.

Offensichtlich ist diese evolutionäre Prägung auch heute noch wirksam. Viele Hepatologen, das sind Fachärzte für Lebererkrankungen, vertreten die Ansicht, dass sporadische Alkoholexzesse weniger leberkritisch sind als ein moderater Dauerkonsum. Besser wäre allerdings, beides zu unterlassen. Dem dürften nicht zuletzt Neurologen, also auf unser Gehirn spezialisierte Ärzte, zustimmen .

Wer dennoch nicht von alkoholischen Getränken lassen will, sollte sich auch bewusst machen, dass es sich dabei letztendlich um kein Getränk sondern ein energiehaltiges Genussmittel handelt. Niedrigprozentiges wie besonders Bier mag zwar durchaus geeignet sein, den Durst zu löschen. Aber es macht das keinesfalls so gewichtsneutral wie Wasser. Denn Bier hat einen eigenen Nährwert. Der ist zwar sogar etwas niedriger als beispielsweise der von Apfelsaft, doch wirkt der Gerstensaft zusätzlich appetitanregend auf Fettiges. Zum Bier schmeckt ein üppiger Schweinebraten einfach besser als zum Mineralwasser. Und solange die Leber mit dem Alkoholabbau beschäftigt ist, läuft der Fettstoffwechsel auf Sparflamme. Für den Bierbauch gibt es also gleich mehrere Gründe, zu denen womöglich auch noch die Phytoöstrogene aus dem Hopfen gezählt werden müssen.

Trinkmerksätze

  • Wasser ist das natürlichste und gesündeste aller Getränke. Ob mit oder ohne Kohlensäure, sollte eine eher zweitrangige Frage sein. Selbst Kohlensäurekritiker werden der Aussage zustimmen, wonach Wasser mit energieneutraler Kohlensäure gegenüber mit Energieträgern angereichertem Wasser das kleinere Übel ist.
  • Wasser ist ein Schlankheitsmittel. Sie können trinken so viel sie wollen, ohne ein Gramm zuzunehmen. Zudem passt in einen mit Wasser gefüllten Magen weniger rein. Zwei Gläser vor dem Essen entschärfen Heißhunger und man isst automatisch weniger.
  • Reine Fruchtsäfte oder gezuckerte Limonaden sind Süßigkeiten und sollten wie solche behandelt werden: So wenig und so selten wie möglich konsumieren; Kinder erst gar nicht daran gewöhnen.
  • Bei Saftschorlen gilt das schadensbegrenzende Motto: Je verdünnter desto besser.
  • Mit energieneutralen künstlichen Zuckeraustauschstoffen gesüßte Getränke sind offensichtlich keine evolutionär bewährte Alternative. Viele Süßstoffe liefern zwar selbst keine Energie, regen aber den Appetit an. Zudem wurden und werden einige Süßungsmittel verdächtigt, das Krebs- und Diabetesrisiko zu erhöhen.
  • Unbedenklichere energiefreie Getränke mit Geschmack sind ungesüßte Tees oder Wasser, in dem eine ungespritzte beziehungsweise geschälte Zitronenscheibe schwimmt. Kaffee ist ungezuckert und schwarz ein akzeptables Getränk, mit Milch und (viel) Zucker aber eine Süßigkeit.
  • Milch ist kein Getränk sondern ein fett-, zucker- und eiweißhaltiges Nahrungsmittel.
  • Ungesundes beziehungsweise zu üppiges Essen schmeckt zu Wasser weniger gut als zu Bier oder Wein. Nützen sie diese Kalorien sparende Erkenntnis. Je öfter, desto besser.
  • Nach einer Energie verbrauchenden Radtour in den Biergarten seien jedem ein oder auch mehrere Biere gegönnt. Aber trinken Sie erst einmal ein großes Wasser gegen den Durst und danach Bier für den Genuss.
  • Ähnlich spart an Kalorien und Alkohol, wer sich zur Gewohnheit macht, zwischen zwei Wein- oder Bierordern grundsätzlich ein Wasser zu bestellen.
  • Hochprozentiges ist kein Getränk. Zumindest keines, das irgendetwas mit Durststillen zu tun haben könnte. Ab welchen akuten und summierten Mengen aus einem solchen suspekten Genussmittel ein krankmachendes Genussgift wird, liegt auch in den Genen. Ob man diesbezüglich eher günstig oder ungünstig bestückt ist, merken die meisten leider oft erst, wenn es zu spät ist. Wer Hochprozentiges meidet oder auf seltene Anlässe reduziert, steht auch aus evolutionstheoretischer Sicht auf der sichereren Seite.

Unsere Mitesser

Beim Essen sind wir nie allein. Unser Darm ist eines der artenreichsten Biotope der Erde. Er ist besiedelt mit Billionen von Bakterien, Pilzen und weiteren Kleinstlebewesen, die an allem mitnaschen, was wir uns an Nahrung und Getränken zuführen. Die Medizin hat diesen Mikrokosmos in uns lange Zeit ignoriert oder sogar misstrauisch beäugt. Seit Robert Koch und Louis Pasteur vor rund 150 Jahren die moderne Mikrobiologie begründeten, interessierte an Bakterien vor allem ihre Rolle als Infektionserreger. Inzwischen weiß man, dass unter den Millionen von Mikrobenarten, die es auf der Erde schätzungsweise gibt, nur ein paar hundert als Infektionserreger für den Menschen relevant sind. Weit größer ist die Zahl derer, die viele Stellen unseres Körpers besiedeln und uns dabei auf vielfältige Weise nützen (siehe auch Kapitel V). Am bedeutsamsten ist dabei die Mikrobengemeinschaft, die sich als unsere Darmflora zusammengefunden hat.

Ein lange verkanntes Organ …

Unsere Darmflora besteht aus Billionen von Kleinstlebewesen, von denen wir zumindest einen Teil zum gesunden Überleben brauchen. Mitglieder unserer Darmflora setzen Fermente frei, die unsere Verdauung unterstützen. Andere verdauen, was wir selbst nicht verdauen können und erschließen uns über ihren Stoffwechsel wichtige Vitamine und Mikronährstoffe. Aus resistenten Stärken der Ballaststoffe synthetisieren sie unter anderem kurzkettige Fettsäuren wie insbesondere Buttersäure. Buttersäure ist ein Hauptnähr- und Schutzstoff des Darmepithels. Ausreichende Mengen sind Voraussetzung für eine gesunde Darmfunktion und sollen sogar chronisch entzündlichen Darmerkrankungen sowie Darmkrebs vorbeugen. Eine im gesunden Gleichgewicht befindliche Darmflora verhindert, dass potenziell krankmachende Keime im Darm ein kritisches Ausmaß erreichen und sie stellt Sparringspartner für unser Immunsystem. Neuesten Erkenntnissen zufolge kommunizieren Teile unserer Darmflora sogar mit unserem Gehirn. Sie können beispielsweise Botenstoffe freisetzen oder ihre Freisetzung veranlassen, die  – je nachdem, welche zum Zuge kommen – ein Sättigungs- oder umgekehrt ein Hungergefühl unterstützen.

Angesichts ihrer vielfältigen und wichtigen Funktionen mehren sich in der Wissenschaft inzwischen die Stimmen, die unsere Darmflora gewissermaßen als ein zusätzliches Organ unseres Körpers betrachten. Würde man alle Mikroben unserer Darmflora auf die Waage legen, käme ein Erwachsener auf eine Masse von bis zu 2 Kilogramm. Dabei soll die Summe all dieser uns innewohnenden Kleinstlebewesen die Zahl unserer Körperzellen um etwa den Faktor Zehn übertreffen! Die vergleichsweise junge Wissenschaft, die sich mit den komplexen Interaktionen zwischen Wirten und der Gesamtheit ihrer mikrobiellen Bewohner befasst, wird als Mikrobiomforschung bezeichnet.

… mit turboevolutionärem Potenzial

Der Mensch und seine Mikroflora haben sich in einer viele 100.000 Jahre umfassenden Koevolution aneinander angepasst. Der Stammbaum der Arten spiegelt sich in gewisser Weise auch in einem Stammbaum ihrer Mikroflora wider. So finden sich etwa zwischen der Darmflora eines Menschen und eines Schimpansen mehr Gemeinsamkeiten als zwischen der Darmflora eines Menschen und der eines Schwans.

Trotz einer gewissen Grundgemeinsamkeit kann sich aber die Zusammensetzung der menschlichen Darmflora auch von Mensch zu Mensch erheblich unterscheiden. Dabei ist es vor allem die Art der Ernährung, die eine unterschiedliche Darmflora bedingt. Beispielsweise haben Menschen, die viele Ballaststoffe essen, eine andere Darmflora als Menschen, die sich hauptsächlich von Weißbrot und Süßigkeiten ernähren.

Da unsere Darmflora aus Lebewesen mit einer sehr schnellen Generationenfolge besteht, kann sie sich veränderten Ernährungsgewohnheiten ihres Wirtes sehr schnell anpassen. Dies kann sowohl durch ein sich veränderndes Artenspektrum erreicht werden als auch durch eine selektive Bevorzugung von den neuen Verhältnissen besser angepassten Mutanten einer gleichen Art. Steigern wir beispielsweise unseren Süßigkeitenkonsum, könnte einerseits die Schar schon immer Zucker liebender Bakterien zunehmen. Gleichzeitig könnten aber auch Zucker liebende Mutanten einer diesbezüglich bislang wenig aufgefallenen Bakterienart in den Vordergrund ihrer Art treten.

Die entscheidende Frage ist allerdings, inwieweit wir als Makroorganismus von der schnellen Anpassungsfähigkeit unserer Darmflora profitieren und so vielleicht sogar die eine oder andere artungerechte Ernährungssünde abgemildert wird. Wahrscheinlicher ist aber, dass eine uns durch eine falsche Ernährung entfremdete Darmflora für zusätzliches Ungemach sorgt. Denn wir sind dann eigentlich kein koevolutionär bewährtes Team mehr, das sich über eine lange gemeinsame Geschichte optimal aufeinander eingespielt hat.

Auch für unser Gewicht hat die Darmflora Gewicht

Seit einigen Jahren findet die Wissenschaft Hinweise, wonach die Darmflora auch erheblichen Einfluss auf unser Körpergewicht hat. Der erste Befund, der Forscher auf diese Spur brachte, war die Tatsache, dass in der Darmflora übergewichtiger Menschen überzufällig oft andere Leitkeime dominieren als in der Darmflora normalgewichtiger. Die große Henne- oder Ei-Frage war, ob das Übergewicht beziehungsweise die Ernährungsgewohnheiten, die zu Übergewicht führen, die Darmflora verändern oder ob eine veränderte Darmflora Übergewicht begünstigt. Wahrscheinlich ist beides möglich und wirkt letztendlich im Resultat zusammen. Interessant waren nun aber tierexperimentelle Befunde, wonach man dünne Mäuse dick machen konnte, indem man ihnen Darmflora von dicken Mäusen übertrug.

Entsprechende kontrollierte Versuche am Menschen gibt es noch nicht. Aber es sind verschiedene Szenarien denkbar, wie unsere Darmflora beziehungsweise Teile davon dazu beitragen, dass wir ungewollt zunehmen. Nachfolgend eine spekulative Auswahl inklusive ebenso spekulativ begründeter Gegenmaßnahmen:

Optimale Nahrungsmittelverwerter: Enthält die Darmflora viele Mikroben, die aus der zugeführten Nahrung auch noch den letzten darin enthaltenen Rest an Energie für uns verwertbar machen, war das in Zeiten karger Versorgungsverhältnisse sicherlich ein großer Vorteil, der sich deshalb breit durchgesetzt haben dürfte. In modernen Zeiten ist aber eine Darmflora, die uns zum sehr guten Futterverwerter qualifiziert, eher ein dick machender Nachteil. Für Menschen, die mit einer solchen Darmflora ausgestattet sind, könnte es ein schlank machender Segen sein, wenn die Wissenschaft Wege fände, diese nicht mehr zeitgemäßen mikroskopischen Dickmacher selektiv aus unserer Darmflora zu entfernen oder zumindest deutlich zu reduzieren.

Zuckerverwerter fordern Zucker: Wie Sie bereits gelesen haben, sind Darmbakterien offensichtlich an unserem Sättigungs- beziehungsweise Hungergefühl beteiligt. Haben wir durch eine über längere Zeit falsche Ernährungsweise beispielsweise Zucker verwertende Bakterien begünstigt, wäre vorstellbar, dass diese einmal etablierte Population an stetem Zuckernachschub interessiert ist. Sie könnte Botenstoffe aussendet, die unsere Gier nach Zucker verstärken.

Es ist eine oft geschilderte Erfahrung, wonach die Lust auf Süßigkeiten nachlässt, wenn man es schafft, für einige Wochen konsequent auf Zuckerhaltiges zu verzichten. Vielleicht spielt dabei eine Rolle, dass während dieser Abstinenz die Zucker liebenden Bakterien unserer Darmflora verhungert oder zumindest zu gering geworden sind, um weiterhin starke Zuckergiersignale an unser Gehirn senden zu können.

Nur satte Bakterien machen satt: Sollte unsere Darmflora tatsächlich in der Lage sein, unser Sättigungsgefühl zu verstärken, ist wenig wahrscheinlich, dass sie uns diesen Dienst erweist, solange sie selbst hungern muss. Hauptnahrungsquelle unserer Darmflora sind Ballaststoffe. Eine artgerechte Ernährung mit vielen pflanzlichen Faserstoffen sichert eine ausreichende Ballaststoffversorgung unserer Darmkeime und wirkt womöglich auch auf diesem Weg Übergewicht entgegen. Wer mehr Hunger hat als seinem Gewicht gut tut, könnte ausprobieren, ob sich mit einer zusätzlichen Ballaststoffzufuhr an diesem Zustand etwas ändert. In Frage käme etwa geschroteter Leinsamen oder auch ballaststoffhaltige Nahrungsergänzungsmittel, die etwa als so genannte Präbiotika (Bakterienfutter) angeboten werden. Damit speziell wasserlösliche Ballaststoffe im Darm ordentlich aufquellen und nicht stopfen, sind ausreichende Trinkmengen wichtig.

Evolutionär bewährter Start zu einer optimalen Darmflora

Der Darmtrakt Ungeborener ist noch ein steriler Ort. Aber bereits bei der Geburt findet eine erste Beimpfung des kindlichen Darmes statt. Auf natürlichem Weg zur Welt gekommene Kinder schlucken während des Geburtsvorganges zwangsläufig Keime der mütterlichen Scheiden- und Darmflora, die so zum Starterpaket für die eigene Darmflora werden.

Kaiserschnittkindern bleibt diese evolutionär bewährte Strategie der Darmerstbesiedelung vorenthalten. Umso wichtiger ist für die sie die zweite wesentliche Rekrutierungsebene der kindlichen Darmbesiedelung: Die mütterliche Haut. Bei jedem Mund-Hautkontakt und dabei besonders während des Bruststillens schluckt der Säugling unsichtbare Bakteriencocktails und rüstet damit seine Darmflora auf. Die Tatsache, dass Kaiserschnittkinder, nicht brustgestillte Kinder oder auch Kinder von Mütter, deren eigenes Mikrobiom geburtsnah durch eine Antibiotikatherapie durcheinander gewirbelt worden ist, überdurchschnittlich anfällig für Infekte, Allergien und Verdauungsbeschwerden sind, wird zumindest zum Teil mit ihrer suboptimal erworbenen Darmflora erklärt. Der Gedanke liegt deshalb nahe, hier durch gezielte Gaben geeigneter Probiotika (lebende Bakterienkulturen) korrigierend einzugreifen. Insbesondere zu Probiotika mit Laktobazillen und Bifidobakterien liegen bereits Studien mit positiven Ergebnissen – etwa beim Einsatz gegen Säuglingskoliken – vor.

Der Gau für unsere Darmflora: Eine Antibiotikatherapie

Die Entdeckung des Penizillins und anderer Antibiotika war ein Segen, der vielen ehemals tödlichen bakteriellen Infektionskrankheiten den Schrecken genommen hat. Als gegen Bakterien gerichtetes Gift schaden Antibiotika allerdings auch unserer Darmflora und bringen sie aus dem Gleichgewicht. Dagegen empfindliche Keime werden aus unserer Darmflora eliminiert oder zumindest deutlich reduziert, gegen Antibiotika nicht oder weniger empfindliche Keime gewinnen an Überhand. Das ist der Grund, warum manche Menschen während oder im Anschluss an eine Antibiotikatherapie von Durchfällen und anderen Verdauungsbeschwerden geplagt werden. Während es sich dabei meist um lästige aber harmlose Erscheinungen handelt, die sich von selbst wieder geben, kommt es in seltenen Fällen zu einer so genannten pseudomembranösen Kolitis. Schuld an dieser ernsten Dickdarmentzündung ist ein zur natürlichen Darmflora zählendes Bakterium (Clostridium difficile), das gegen die meisten Antibiotika unempfindlicher als der Rest der bakteriellen Darmgemeinschaft ist. Eine Antibiotikatherapie verschafft ihm einen selektiven Vorteil. Es vermehrt sich hemmungslos, besetzt frei gewordene Lücken und wird in diesem Übermaß zum gefährlichen Risiko für den Dickdarm. Bei anhaltend schweren und gar blutigen Durchfällen während oder bis zu vier Wochen im Anschluss an eine Antibiotikatherapie sollte deshalb immer umgehend ein Arzt konsultiert werden. Durch geeignete Pro- und Präbiotika, die während und bis einige Tage bis Wochen nach einer Antibiotikatherapie eingenommen werden, kann versucht werden, antibiotikabedingte Gleichgewichtsstörungen der Darmflora abzumildern. Fragen Sie im Bedarfsfall Ihren Arzt oder Apotheker.

Aktuelles und Zukünftiges zu unserer Darmflora im Schnelldurchlauf

  • Unsere Darmflora isst an allem, was wir essen, mit. Sie bildet gewissermaßen ein autonomes aber für uns lebenswichtiges Organ, das erheblichen Einfluss auf unseren Stoffwechsel und unser Immunsystem hat.
  • Eine artgerechte Ernährung mit einer ausreichenden Menge an Ballaststoffen begünstigt eine artgerechte Darmflora, die maßgeblich zu unserer Gesundheit und unserem Wohlbefinden beiträgt.
  • Da unsere Darmflora eine schnell wandelbare Mikrobengemeinschaft ist, kann sie sich neuen Ernährungsverhältnissen entsprechend schnell anpassen. Das dürfte uns allerdings oft eher zusätzlich schaden als nützen.
  • Natürliche Entbindung und mehrmonatiges Stillen sind die besten Startbedienungen für eine gesunde Darmflora.
  • Antibiotikatherapien sind Megastress für unsere Darmflora. Sie sollten deshalb auf ihr notwendiges Muss reduziert werden. Beispielsweise sind die meisten Erkältungskrankheiten durch Viren bedingt. Antibiotika sind hier sinnlos, zumal sie ausschließlich gegen bakterielle Infektionen wirken.
  • Es gibt hinreichende Hinweise, dass sich die Nebenwirkungen von Antibiotika auf die Darmflora durch die Gabe geeigneter Pro- und Präbiotika reduzieren lassen.
  • Von der gezielten Beeinflussung unserer Darmflora mit bewährten und neuartigen Pro- und Präbiotika können wir in Zukunft wohl noch einiges erwarten. Neben immunologischen Konsequenzen und solchen gegen verschiedene Stoffwechselleiden wird sich damit möglicherweise auch die Gewichtskontrolle erleichtern lassen. Googeln sie in diesem Zusammenhang vielleicht auch mal den Begriff „Stuhltransplantation“.

Soll fasten wer nicht mehr hungert?

Abgesehen von Begünstigten in paradiesähnlichen tropischen Gefilden, waren unsere sammelnden und jagenden Ahnen immer wieder mit Hungerperioden konfrontiert. Sei es, dass nährende Pflanzen ein Jahr lang spärlicher als üblich wuchsen, zu jagende Tierherden ihre saisonalen Wanderungen anders vollzogen als erwartet, Lachsschwärme ausblieben oder sonstige Launen der Natur Schmalhans zum Gebieter machten. Allein die Tatsache, dass erwachsene Menschen vier Wochen und länger – das weiß man unter anderem aus Beobachtungen an Hungerstreikenden – ohne jede Nahrung auskommen solange sie nur genug Wasser zum Trinken haben, beweist, dass wir gut an Hungerzeiten angepasst sind. Dabei sind die heute lebenden Menschen Großteils Nachfahren von Überlebenden, die sich auch noch in der jüngeren Vergangenheit als besonders hungerresistent bewähren mussten. So hatte die europäische Bevölkerung von 1315 bis zuletzt 1947 über 15 durch Klimakatastrophen, sonstige Missernten und Kriege bedingte überregionale Hungersnöte zu bewältigen. Viele Millionen Menschen überlebten diese Krisen nicht.

Die entscheidende Frage ist nun, ob Hunger lediglich eine riskante Ausnahmesituation ist, für die uns die Evolution schadensbegrenzend gerüstet hat. Oder sind wir sogar so gut an gelegentlichen Hunger angepasst, dass unser Organismus womöglich Schaden nimmt, wenn er ihn überhaupt nicht mehr spüren muss?

Fasten als ritualisiertes Hungern

In diese letztgenannte Richtung zu denken geben sollte die Tatsache, dass nahezu jede Religion und jede Kultur Fastenriten kennt. Ist ein solches rituelles Fasten nur eine sinnlose Selbstgeißelung? Warum sollte es sich dann so kulturübergreifend etabliert haben? Ist es ein Training für den Fall, dass doch irgendwann eine echte Hungersnot kommt? Oder ist es der unbewusste Versuch, dem Körper freiwillig zu geben, was er durch Launen der Natur zwangsläufig bekam und das er, weil er nun mal daran angepasst ist, zumindest in begrenztem Umfang für ein optimales Funktionieren braucht? Aber welchen Vorteil könnte ein freiwilliges wie ein unfreiwilliges Hungern haben?

Hungern beziehungsweise Fasten als Reset für viele Körperfunktionen

Die meisten Menschen, die sich auf ein Fastenabenteuer einlassen und dieses für mehrere Tage bis wenige Wochen durchhalten, schildern dies mehrheitlich als positive Erfahrung. Sind die ersten zwei bis drei Tage nagenden Hungergefühls überwunden, stellt sich oft eine gelassene Klarheit des Denkens ein. Geistig arbeiten und fasten schließen sich überhaupt nicht aus. Die Pfunde purzeln und so mancher entgleiste Stoffwechselparameter bewegt sich wieder in Richtung Normalwert. Insbesondere sinken erhöhte Blutfett- und Zuckerspiegel. Dies oft bereits zu einem Zeitpunkt, zu dem sich das Hüftgold subjektiv noch unverändert darstellt. Denn viel entscheidender als das sichtbare Körperfett ist für entgleisende Blutzucker- und Blutfettspiegel neuesten Erkenntnissen zufolge das Leberfett. Und genau das schwindet bei Fastenkuren als Erstes.

Fasten scheint auch geeignet, um ein aus den Fugen geratenes Immunsystem etwas zu beschwichtigen. Chronische Entzündungen und Allergien können abklingen oder zumindest deutlich besser werden. Die Wissenschaft hat bereits einige Mechanismen, über die Fasten hier wirksam werden könnte, im Visier und womöglich lassen sich daraus zukünftige Strategien ableiten, wie man diese Fastenerfolge konserviert. Denn bislang gehen die durch Fasten erreichten günstigen Effekte bezüglich chronischer Entzündungen und Allergien früher oder später meist wieder verloren, wenn das Fasten beendet wird.

Möglicherweise ist Fasten auch ein Reset für unsere Darmflora. Denn es ist nahe liegend, dass auch unsere Darmkeime hungern, wenn wir hungern. Und vielleicht verhungern und verschwinden ja dann die, die am wenigsten zu uns passen, als Erste.

Fasten soll ein Neuanfang und kein Schuss nach hinten sein

Mehrwöchiges Fasten ist eine Extremsituation, auf die man sich nicht ohne Abwägung der individuellen Risiken-Nutzen-Relation einfach so einlassen sollte. Eine häufige Nebenwirkung sind zum Beispiel steigende Harnsäurespiegel bis hin zum akuten Gichtanfall. Während des Fastens viel Wasser zu trinken, senkt auch dieses Fastenrisiko.

Besonders Menschen, die bereits eine chronische Erkrankung haben und die womöglich sogar überdurchschnittlich von einer Fastenkur profitieren, tragen aber auch das höchste Risiko. Sie sollten eine Fastenkur nur in Absprache mit ihrem Arzt beginnen und durchführen. Ideal wären stationäre Bedingungen. Denn in einer Klinik und im Kontakt mit mehreren Leidensgenossen steht man eine Fastenkur nicht nur leichter durch sondern man hat auch sofort ärztliche Hilfe parat falls diese notwendig werden sollte. Außerdem können die Spezialisten in Fastenkliniken auch am ehesten beurteilen, welche Fastenform für den konkreten Patienten am geeignetsten erscheint. Selbst wenn es vielen Menschen leichter fällt, gar nichts statt reduziert zu essen, kommt eine Null-Diät nicht für jeden infrage.

Je länger man hungert, desto stärker schaltet des Organismus auf Sparmodus. Zu Zeiten regelmäßig knapper Nahrung war dies eine sinnvolle, überlebensnotwendige Strategie. Heute ist sie ein wesentlicher Grund für den vielfach beklagten Jo Jo-Effekt. Wer nach einer längeren Fastenkur zu Ernährungsgewohnheiten zurückkehrt, die ihn ehedem dick gemacht haben, bekommt die verlorenen Pfunde aufgrund des noch einige Zeit andauernden Sparmodus schnell wieder aufgeladen und vielleicht sogar noch etwas dazu.

Deshalb ist es wichtig, nach einer Fastenkur eben nicht zu ungesunden Ernährungsmustern zurück zu kehren sondern vielmehr in eine neue, artgerechtere Ernährung zu starten. Nach den Entbehrungen des Fastens ist unser Geschmack bescheidener und offener für neues Altes. Er lässt sich leichter umgewöhnen. Nutzen Sie diese Chance.

Fasten light im Jäger- und Sammlermodus

Lange Zeit rieten Ernährungswissenschaftler mehrheitlich, die tägliche Kalorienzufuhr auf fünf oder gar mehr tägliche Rationen zu verteilen. Auf diese Weise bliebe man vor Heißhungerattacken, bei denen man dann leicht zu viel zu schnell in sich hinein schiebt, verschont. Diese Sichtweise hat heute Konkurrenz bekommen. Wer fünfmal am Tag isst, esse eher mehr als wer sich nur dreimal tägliche eine Mahlzeit gönnt. Außerdem sei es wichtig, dass die Verdauungsorgane nicht ständig aktiviert sind. Deshalb wäre es besser, Zwischenmahlzeiten zu streichen. Statt fester Essenszeiten empfehlen manche aus dieser Liga, von Mahlzeit zu Mahlzeit mindestens fünf Stunden zu warten.

Harte Studiendaten, die hier die Entscheidung erleichtern könnten, gibt es bislang nicht. Deshalb bezieht auch die DGE keine Stellungnahme zugunsten oder gegen Zwischenmahlzeiten. Wichtiger ist ihr der Hinweis, sich beim Essen Zeit zu lassen und sich wirklich auf das Essen zu konzentrieren. Denn wer sich während des Essens mit Arbeit oder auch nur mit Lesen oder Fernsehen ablenkt, bemerke sein Sättigungsgefühl zu spät und esse schon allein deshalb leicht zuviel. Da könnte schon was dran sein.

Orientieren wir uns allerdings wieder an den Jägern und Sammlern, steht jeder feste Rhythmus unter einem dicken Fragezeichen. Wahrscheinlich aßen unsere frühen Ahnen, wenn sie etwas hatten. Manchmal andauernd, manchmal fünfmal täglich, manchmal nur drei- oder einmal und immer wieder auch keinmal. Es scheint also auch aus diesem evolutionstheoretischen Blickwinkel keinen für alle verbindlichen Ratschlag zu geben. Vielleicht probieren Sie deshalb einfach jeweils einen Monat lang aus, ob es ihnen leichter fällt, ihr Gewicht zu halten beziehungsweise Übergewicht abzubauen, wenn sie Ihre tägliche Essensmenge auf fünf, drei oder gar nur zwei Rationen verteilen. Und wer sich jeden Tag wiegt, könnte einfach ein Abendessen ausfallen lassen (googeln Sie „Dinner-Cancelling“) oder sogar einen ganzen Tag fasten, sobald das Istgewicht das für diesen Tag realistisch angestrebte Sollgewicht übersteigt. An ein solches intermittierendes Kurzzeitfasten sollten wir stammesgeschichtlich bestens angepasst sein und keinerlei Schaden davon nehmen. Nur für die dazu notwendige Willenskraft haben wir leider keine evolutionäre Tradition. Denn wo nichts war, brauchte man keinen Willen, darauf zu verzichten. Das macht die Angelegenheit in Gegenwart gefüllter Kühlschränke nicht ganz einfach. Aber der freiwillige Verzicht fällt von mal zu mal leichter, zumal dann, wenn einen der fallende Waagenzeiger unmittelbar belohnt.

Fasten oder nicht fasten: Eine Entscheidungshilfe in Stichpunkten

  • Der Mensch ist stammesgeschichtlich gerüstet, auch mehrwöchige Hungerperioden zu überstehen
  • Die Tatsache, dass es in nahezu jeder Kultur und Religion Fastenrituale gibt, sollte zu denken geben: Ist Hungern nicht nur eine Notlage sondern hat sich unser Körper evolutionär so sehr an gelegentliche Hungerepisoden angepasst, dass sie seinem möglichst langen problemlosen Funktionieren sogar dienlich sind? Sollte also auch in aufgeklärten Welten gelegentlich fasten, wer nicht mehr hungern muss?
  • Wichtiger als für Normalgewichtige könnte diese letzte Frage für Übergewichtige sein.
  • Waagenorientiertes konsequentes Kurzzeitfasten kann zusätzlich zu artgerechter Ernährung und mehr Bewegung (siehe nächstes Kapitel) für noch Gesunde ein probates und risikoarmes Mittel sein, Übergewicht abzubauen beziehungsweise das Sollgewicht zu halten.
  • Ein mehrtägiges bis mehrwöchiges Fasten hat mehr Potenzial als das Abbauen überflüssiger Pfunde. Es kann ein spirituelles Erlebnis sein, das viele Bereiche des Körpers und auch die Seele wieder ins Gleichgewicht bringt.
  • Fasten kann deshalb ein guter Einstieg zum Ausstieg aus falschen Ernährungsgewohnheiten sein.
  • Je länger und absoluter man fasten will, umso wichtiger ist eine wirklich kompetente Anleitung. Besonders Menschen mit Vorerkrankungen sollten ihre Fastentauglichkeit vorher medizinisch abklären lassen und auch während ihrer gesamten Fastenzeit ärztlichen Beistand in Anspruch nehmen.
  • In den Hungerperioden der Steinzeit kannte man solche Vorsichtsmaßnahmen zugegebenermaßen nicht. Aber vielleicht ist das ja einer der vielen Gründe, warum unsere Vorfahren trotz fehlender Zivilisationssünden dennoch meist früher starben als wir.

Evolutionstheoretisches zu Nahrungsergänzungsmitteln

Die DGE stellt in Übereinstimmung zur schulmedizinischen Mehrheit seit vielen Jahren klar: Bei einer ausgewogenen Ernährung mit ausreichend Obst und Gemüse braucht es keine Nahrungsergänzungsmittel. Aber es gibt Ausnahmen, für die sich auch die DGE stark macht. So sollten Schwangere und Frauen, die eine Schwangerschaft planen, als Vorbeugung gegen eine schwere Wirbelsäulenfehlbildung des Ungeborenen, den so genannten „offenen Rücken“, täglich 400 µg ergänzen. Schwangere und Stillende sollten zudem Eisen- und Jodpräparate erwägen. Säuglinge sollen gemäß der aktuellen Empfehlungen bei den ersten drei Vorsorgeuntersuchungen Vitamin K-Tropfen gegen spontane Blutungen verabreicht bekommen. Im Interesse eines optimalen Knochenaufbaus und der Zahngesundheit sind laut DGE während des ersten Lebensjahres täglich 400-500 I.E. (Internationale Einheiten) Vitamin D und 0,25 mg Fluorid angebracht. Darüber hinaus rät die DGE Menschen jeden Alters, die sich wenig im Freien aufhalten und die Sonne scheuen, zu moderat dosierten Vitamin D-Präparaten. Speisesalz sollte jodiert und fluoriert auf den Tisch.

Aus evolutionstheoretischer Sicht erscheint diese selektive Beschränkung auf einige wenige Nahrungsergänzungsmittel nicht plausibel. Denn:

Eine artgerechte Ernährung und Lebensweise sollte alle Mangelzustände ausschließen

Es ist davon auszugehen, dass wir uns in einer jahrmillionenlangen Evolution an bestehende Ernährungsumstände gut angepasst haben. Denn wer das nicht tat, starb aus oder wurde zu einer Minderheit in seiner Art. Eine artgerechte Ernährung zusammen mit einem artgerechten Lebensstil sollte uns also vor Mangelerscheinungen jedweder Art bewahren. Und das auch während Schwangerschaft und Stillzeit. Wenn wir dann aber heute zumindest in diesen Ausnahmesituationen selbst in den Augen der DGE einer Nahrungsergänzung mit Folsäure, Eisen und Vitamin D bedürfen, ist dies doch ein klares Indiz dafür, dass unsere Ernährung beziehungsweise unsere sonstigen Lebensumstände keine optimale Versorgung mit diesen Stoffen mehr sicherstellen. Und warum sollte sich dann eine solche Mangelversorgung nur auf einige wenige Substanzen beschränken? Man sollte einmal darüber nachdenken, inwieweit ein eingeräumter Folsäuremangel womöglich nur die Spitze des Eisberges evolutionär bewährter aber mit der heute üblichen Ernährung nicht mehr ausreichend zugeführter Nährstoffe ist.

Der Schulmedizin liebstes Nahrungsergänzungsmittel: Jod

Während die Schulmedizin die meisten Nahrungsergänzungsmittel für überflüssig hält, ist sie in Jodmangelgebieten von der Notwendigkeit einer Jodsubstitution für die gesamte Bevölkerung überzeugt. Dabei herrschte in den heutigen Jodmangelgebieten der Jodmangel seit Menschengedenken. Die dort schon immer lebenden Menschen sollte sich mehrheitlich diesem Mangel angepasst haben. Das ist offensichtlich auch der Fall. Denn manifeste Jodmangelerscheinungen traf auch vor der Jodsubstitution nur eine Minderheit. Und für diese Minderheit ist die Substitution sicher auch gut. Aber ist diese Substitution auch gut für die, die sich der Jodmangelsituation angepasst haben. Oder ist sie für die vielleicht sogar nachteilig, wie die Fraktion der so genannten „Jod-Kritiker“ nicht müde wird zu behaupten.

Evolutionstheoretisch plausible Nahrungsergänzungsmittel

Wir wollen hier keinesfalls einen Jodstreit vom Zaun brechen. Aber vielleicht gibt es für das eine oder andere Nahrungsergänzungsmittel zumindest aus evolutionstheoretischer Sicht sogar bessere Argumente als für die offiziell empfohlene generelle Jodsubstitution.

Wann immer ein Nahrungsergänzungsmittel einen Nutzen für sich in Anspruch nimmt, wäre natürlich der sicherste Weg zum Nachweis dieses Nutzens eine große placebokontrollierte Studie. Eine solche Studie, die ähnlich aufgebaut sein müsste wie eine Zulassungsstudie für Arzneimittel, wäre aber immens teuer. Da allerdings die meisten Nahrungsergänzungsmittel nicht patentierbare Naturstoffe sind, hätten die Finanziers einer solchen Studie keinen exklusiven Vorteil davon. Trittbrettfahrer würden bei einem positiven Ergebnis ihr Produkt gleichen Inhaltes sofort mit den fremden Lorbeeren schmücken und könnten aufgrund eingesparter Studienkosten leicht den Preis der forschenden Konkurrenz unterbieten. Zu den meisten Nahrungsergänzungsmitteln werden wir deshalb vergeblich auf methodisch unangreifbare Nutzennachweise warten. Dennoch könnte im einen oder anderen Nahrungsergänzungsmittel doch etwas mehr stecken als ein Placebo. Ein erster Weg, die Spreu vom Weizen zu trennen, wäre eine Antwort auf die Frage: Wie wahrscheinlich ist, dass das zur Diskussion stehende Nahrungsergänzungsmittel ein Defizit ausgleicht, welches die heutige Ernährungsweise gegenüber der der Jäger und Sammler hat? Ersetzt ein Nahrungsergänzungsmittel wirklich einen wichtigen Stoff, an den wir evolutionär angepasst sind, den aber unsere moderne Ernährung nicht mehr in ausreichendem Umfang liefert, ist sogar vorstellbar, dass dieses Nahrungsergänzungsmittel gegen höchst unterschiedliche Beschwerden helfen könnte.

Fischölkapseln

Wie bereits im Abschnitt „Fette und Öle“ dargelegt wurde, sind in der traditionellen Kost noch heute lebender Jäger und Sammlervölker die mehrfach ungesättigten Fettsäuren Omega-6 und Omega-3 im Verhältnis 2:1 bis 1:1 verteilt. In der durchschnittlichen Zivilisationskost besteht dagegen ein Omega-6-betontes Missverhältnis von 10 bis 20:1. Ein Missverhältnis, das als Risikofaktor für Herz- und Gefäßleiden sowie chronische Entzündungen, insbesondere auch der Gelenke, diskutiert wird. Die beste weil natürlichste Lösung, dieses Missverhältnis abzumildern, wäre wohl, mehr natürliche Omega-3-Fettsäurequellen wie fetten Kaltwasserseefisch oder Fleisch und Käse von artgerecht gehaltenen Weiderindern in unsere Ernährung zu integrieren. Reicht dies allerdings nicht aus oder scheitert eine ausreichende Ernährungsumstellung aus Geschmacksgründen, könnte eine Nahrungsergänzung mit Omega-3-Fettsäure-reichen Fischölkapseln eine evolutionstheoretisch plausibilisierte schadensbegrenzende Maßnahme sein.

Probiotika zur Auffrischung der eigenen Darmflora

Treffen Säugetiere der gleichen Art aufeinander, wird sich bei friedlicher Kontaktaufnahme erst einmal gründlich beschnuppert. Besonders intensiv wird dabei die Anogenitalregion berochen und auch beleckt. Dies vorgeblich deshalb, weil in dieser Körperregion lokalisierte Analdrüsen Duftsekrete absondern, die für die innerartliche Kommunikation eine Rolle spielen (Reviermarkierung, Paarungsbereitschaft usw.). Da dieses Verhalten bei nahezu allen Landsäugetieren zu beobachten ist, muss es trotz möglicher Nebenwirkungen (Verbreitung von Darmparasiten) einen hohen evolutionären Nutzen gehabt haben, sonst hätte es sich nicht so breit durchgesetzt. Ein wesentlicher Nutzen dürfte der oral-fäkale Austausch von Darmflora sein, von dem besonders die Individuen profitieren, deren Darmflora sich gerade etwas im Ungleichgewicht befindet. Eine derart evolutionär bewährte (Wieder-)Aufrüstung der eigenen Darmflora ist den Menschen im Prozess der Zivilisation weitgehend abhanden gekommen (nicht ganz, siehe dazu Kapitel V) und man wird wohl nicht mehr dazu zurückkehren. Hier könnten geeignete Probiotika, also in Kapseln und Tropfen verpackte nützliche Darmkeime, eine höchst sinnvolle Nahrungsergänzung sein. Dabei dürften die heute hauptsächlich beworbenen Probiotika nur einen kleinen Ausschnitt der in Frage kommenden Keime repräsentieren. Übrigens liegen den in der Tiermedizin – vor allem bei Pferden –  schon lange praktizierten und inzwischen mit teilweise überraschenden Erfolgen auch in der Humanmedizin versuchten so genannten Stuhltransplantationen ähnliche Überlegungen zugrunde. Denn der via Einlauf, Endoskop oder zu schluckender Kapsel von einem gesunden Spender auf einen Darmpatienten übertragene Stuhl ist wohl nichts anderes als der Versuch, bei einem Menschen mit umfassend gestörter Darmflora wieder gesunde Darmflora zu säen.

Bitterstoffe

Wie im Abschnitt „Gemüse und Obst“ dargelegt, sind heute aus vielen Nutzpflanzen die ursprünglich darin enthaltenen Bitterstoffe heraus gezüchtet. Angeblich will es der Konsument so. Bitterstoffe gehören allerdings zu einer artgerechten Ernährung und der beste Weg, sie uns anzueignen, wären entsprechend bittere Esspflanzen. Wer aber dem Urgeschmack schon so entwöhnt ist, dass er bittere Salate und Kräuter nicht mehr in ausreichender Menge über die Lippen bringt, sollte versuchen, einer gestörten Verdauung erst einmal mit pflanzlichen Bitterstoffen aus Nahrungsergänzungsmitteln auf die Sprünge zu helfen. Oft erübrigt sich damit der Griff zu stärkeren aber auch nebenwirkungsträchtigeren chemischen Verdauungshilfen.

Nahrungsergänzungsmittel aus der Apotheke sicherer als aus dubiosen Internetquellen

Obwohl sie oft aufgemacht sind wie Arzneimittel, unterstehen Nahrungsergänzungsmittel nicht dem Arzneimittel- sondern dem Lebensmittelrecht. Zwar sollen irreführende Aussagen zur gesundheitlichen Relevanz von Nahrungsergänzungsmitteln durch eine EU-weit geltende so genannte Health-Claims-Verordnung unterbunden werden. Dennoch versprechen Nahrungsergänzungsmittel bislang oft mehr als sie letztendlich halten. Als Konsument sollte man deshalb immer die Plausibilität der Werbeaussage kritisch hinterfragen.

Es gilt zu berücksichtigen, dass die mögliche Wirkung eines Nahrungsergänzungsmittels nicht nur von der Menge darin enthaltener Wirkstoffe sondern auch von ihrer so genannten Bioverfügbarkeit abhängt. Das heißt zum Beispiel, dass die gleichen deklarierten Mineralien, Spurenelemente oder Vitamine präparatspezifisch in verschiedenen chemischen Formationen vorliegen können, die vom Körper hoch unterschiedlich verwertbar sind. Besseres hat dann manchmal wirklich seinen höheren Preis. Auch gibt es Multipräparate, in denen Vitamine und Mineralien kombiniert sind, die sich in ihrer Wirkung möglicherweise gegenseitig blockieren. Beim Kauf in Apotheken mit ihren gehobenen Qualitätsansprüchen ist man vor solchen Blindgängern vielleicht etwas besser geschützt als beim Bezug aus anderen Quellen. In diesem Zusammenhang sei abschließend insbesondere vor dubiosen Internetanbietern aus dem Ausland gewarnt. Da kann es nämlich beispielsweise passieren, dass man ein rein pflanzliches Nahrungsergänzungsmittel zur Potenzsteigerung bestellt, welches wirklich einen beeindruckenden Effekt zeigt. Aber nur deshalb, weil kriminelle Geschäftemacher den rezeptpflichtigen Viagrawirkstoff Sildenafil in womöglich auch noch gesundheitlich bedenklicher Dosis in ein ansonsten unwirksame Kräuterextrakt gemischt haben.

Checkpoints Nahrungsergänzungmittel

  • Nahrungsergänzungsmittel unterstehen nicht dem Arzneimittel- sondern dem Lebensmittelrecht. Sie dürfen nicht schaden, müssen aber auch nichts bewirken.
  • Eine wirklich artgerechte Ernährung bedarf keiner Nahrungsergänzungsmittel.
  • Versorgungslücken infolge einer nicht mehr artgerechten Ernährung sollten idealerweise durch eine artgerechtere Ernährungsumstellung geschlossen werden.
  • Wo das nicht ausreichend gelingt, könnten geeignete Nahrungsergänzungsmittel durchaus von Nutzen sein.
  • Nahrungsergänzungsmittel, die tatsächliche Versorgungslücken schließen, können nachvollziehbar einen mehrdimensionalen Nutzen entfalten. Denn wie ein und derselbe Mangelzustand negative Auswirkungen auf unterschiedlichen Körperebenen haben kann, hat die Behebung ein und desselben Mangelzustandes positive Auswirkungen auf alle in Mitleidenschaft gezogenen Körperebenen.
  • Aber Vorsicht: Nahrungsergänzungsmittel versprechen oft mehr, als sie halten!
  • Wünschenswert wären kontrollierte Studien, die die Spreu vom Weizen trennen. Da sich solche Studien unter den herrschenden Bedingungen auf dem Nahrungsergänzungsmittelmarkt nicht rechnen, wird es sie kaum geben.
  • In Deutschland zugelassene Apotheken einschließlich Versandapotheken sind vertrauenswürdiger als so manch andere Bezugsquelle.

Schalten Sie bei der Entscheidung für oder gegen Nahrungsergänzungsmittel den gesunden Menschenverstand ein und hören Sie auch ein bisschen auf ihren Bauch.

Schlussmotivation

Nach Lektüre dieses Kapitels wird ihnen klar sein, welche Richtung Sie einschlagen müssten um zu einer evolutionär bewährten, artgerechteren Ernährung zu kommen. Wer konkrete Menüvorschläge sucht, kann sich eines der vielen Paläo-Diät-Kochbücher kaufen oder man bedient sich kostenlos im Internet. Googeln Sie beispielsweise Paleo-Diät-Rezepte oder Paleo-Diätplan. Aber fürs erste könnte es schon mal genügen, nur eine der in diesem Kapitel genannten Empfehlungen einen Monat lang konsequent in die Tat umzusetzen. Vielleicht wählen sie aus den nachfolgenden Tipps den aus, der ihnen am leichtesten fällt. Fiel seine Befolgung gar nicht so schwer, können sie im nächsten Monat zusätzlich einen zweiten Tipp in die Tat umsetzen und so fort. Wenn Sie merken, dass Sie eine Entscheidung keinesfalls durchhalten, wechseln Sie auf eine andere. Vielleicht klappt es ja mit dem gescheiterten Vorsatz zu einem späteren Zeitpunkt. Also. Womit möchten Sie anfangen?

  • Ich trinke einen Monat lang konsequent nur Wasser.
  • Ich trinke zwischen jedem Glas Wein, Bier oder sonstigem Getränk mindestens ein Glas Wasser.
  • Ich verzichte einen Monat lang auf sämtliche Süßigkeiten und sonstiges kohlenhydratreiches Naschzeug wie Kartoffelchips, Erdnussflips und ähnliche Dickmacher.
  • Einen Monat lang soll mindestens jede zweite meiner Mahlzeiten ein frisch zubereitetes Gemüsegericht, ein üppiger frischer Salat (z.B. mit Schafskäse, Nüssen, Kürbiskernen) oder ein frisches Obstgericht sein.
  • Ich esse einen Monat lang kein Fertiggericht.
  • Ich lasse einen Monat lang von Mahlzeit zu Mahlzeit mindestens fünf Stunden verstreichen.
  • Ich esse einen Monat lang kein Brot, keine sonstigen Mehlspeisen, keine Nudeln und keine Pommes. Also z.B. beim Griechen Gyros nur mit Tsatsiki und Salat. Schon beim dritten Mal wird Ihnen nichts mehr fehlen.
  • Stellen Sie sich selbst weitere Monatsaufgaben in Richtung einer artgerechteren Ernährung.

Der größte Lohn einer artgerechteren = gesünderen Ernährung winkt erst in einer für viele noch weit entfernten Zukunft: Sie steigern Ihre Chancen, gesund zu altern und möglichst lange von vielen Zipperlein verschont zu bleiben. Leider ist ein so entfernt einlösbares Versprechen für die meisten ein unzureichender Anlass, eigene verfestigte Ernährungsgewohnheiten zu überdenken. Motivierender wäre ein zeitnaher Lohn. Was also können Sie von einer artgerechteren Ernährung schon im Verlauf eines Testmonats Positives erwarten?

Übergewicht sinkt ohne Hunger zu leiden!

Wer gegen sein Übergewicht kämpft und nur einen der oben genannten Vorsätze zu einer artgerechteren Diät konsequent in die Tat umsetzt ohne im Gegenzug eine neue Ernährungssünde zu starten, kann mit hoher Wahrscheinlichkeit den Waagenzeiger von Tag zu Tag nach unten wandern sehen. Und das ohne jeden Hunger. Manchmal vielleicht nur grammweise, manchmal auch mit kleinen Rückschlägen. Aber die Tendenz geht stetig nach unten. Wiegen Sie sich bitte jeden Tag, um sich zu motivieren. Tut sich nichts mehr, packen Sie einen zweiten Vorsatz an. Einen besonders schnellen Gewichtsverlust ohne Hungergefühl verspricht übrigens diese Dreierkombination: Als Getränk nur Wasser, ungesüßten schwarzen Kaffee oder ungesüßten Kräutertee, absolut keine Süßigkeiten und so wenig Getreideprodukte wie möglich.

Flachere und sinkende Zuckerspiegel

Wer bereits Diabetiker ist, besitzt ohnehin ein Blutzuckermessgerät. Betroffene werden sehen, wie oben genannte und in die Tat umgesetzte Vorsätze das Blutzuckerprofil positive beeinflussen. Manchmal so sehr, dass sich Medikamente erübrigen. Diabetiker sollten aber jede Ernährungsumstellung mit ihrem Arzt besprechen und Medikamente nicht eigenmächtig absetzen.

Weit größer als die Zahl manifester Typ 2-Diabetiker ist die Zahl derer, die auf dem Weg sind, in den nächsten Jahren einer zu werden. Ihre Blutzuckerwerte liegen noch unter den Grenzwerten, die einen Diabetes definieren. Aber ihre Nüchternblutzuckerwerte oder ihre Spitzenwerte nach dem Essen sind bereits deutlich höher als bei Stoffwechselgesunden. Mit einer Umstellung in Richtung einer artgerechteren Ernährung könnten die meisten dieser Menschen einen drohenden Diabetes verhindern oder zumindest um viele Jahre hinaus schieben. Wenn Sie sich angesprochen fühlen, sollten Sie sich vielleicht ein Blutzuckermessgerät, das es oft schon zu einem Preis deutlich unter 20 Euro gibt, kaufen. Dann können sie schwarz auf weiß beobachten, wie sich die verschiedenen Nahrungsmittel auf ihre Blutzuckerspiegel auswirken und wie sich jeder der oben gelisteten Vorsätze in niedrigeren Werten niederschlägt. Besonders beeindruckende Veränderungen werden auch Sie mit der Kombination der drei Vorsätze „zum Trinken nur Wasser oder vergleichbar Energiefreies, keine Süßigkeiten und möglichst wenig Getreideprodukte“ erzielen. Und wer sich dann noch regelmäßig bewegt … – stopp! Das gehört schon ins nächste Kapitel.

Allgemeines Wohlbefinden

Aber es gibt auch viele kleine, zunächst wenig spektakuläre Veränderungen, die relativ schnell anzeigen, dass man mit einer artgerechteren Ernährung auf dem richtigen Weg in ein gesünderes Leben ist. Neben einem verbesserten diffusen allgemeinen Wohlbefinden könnten das etwa eine reinere Haut, stabilere Fingernägel oder glänzendere Haare sein, eine abnehmende Frequenz regelmäßiger Kopfschmerzen, weniger Verdauungsbeschwerden wie Blähungen oder Übelkeit, ein regelmäßiger Stuhlgang mit wohlgeformten Stühlen und dem Gefühl einer vollständigen, sauberen Entleerung, keinen kleinen Hunger zwischendurch usw. usw. Hören Sie sensibel in sich hinein, was alles besser wird, nachdem Sie einen, mehrere oder gar viele Schritte in Richtung einer artgerechteren Ernährung vollzogen haben. Je mehr Sie spüren, auf dem richtigen Weg zu sein, desto leichter wird es Ihnen fallen, diesen Weg weiter zu gehen. Sie müssen nur anfangen!

Kapitel III: Bewegte Vergangenheit

Die Evolution hat uns auf Bewegung, Ausdauer und harte Muskelarbeit getrimmt. Bis vor wenigen Jahrzehnten hatte der Mensch gar keine Möglichkeit, sich diesen Vorgaben zu entziehen. Für Jäger und Sammler gab es keine Nahrung ohne Bewegung. Wer den ganze Tag und oft auch noch des Nachts auf der Suche nach Essbarem war, benötigte keinen Freizeitsport. Unter den Rahmenbedingungen von Essen oder Gefressenwerden überlebte nur, wer ausdauernd und spurtstark seine Beute verfolgen und mit ebensolchen Qualitäten seinen Verfolgern entkommen konnte. Über viele Kilometer ein erlegtes Wildschwein oder auch nur regelmäßig Feuerholz nach Hause zu tragen, trainierte die Muskeln stärker als jedes neuzeitliche Fitnessstudie.

Die Devise „Nahrung nur gegen Bewegung“ überdauerte die Jäger und Sammler fast bis in die Gegenwart. Wanderhirten folgten ihren Herden und legten dabei täglich viele Kilometer zurück. In steter Regelmäßigkeit galt es, entlaufenes Vieh wieder einzufangen oder Raubtiere zu vertreiben, was Herz, Lunge und Kreislauf immer wieder Belastungsspitzen abverlangte. Handwerk, Ackerbau und das Halten von Vieh auf umzäunten Weiden machten das Bewegungsspektrum zwar etwas monotoner und reduzierten so die Qualität körperlicher Aktivitäten. Die Quantität blieb jedoch ausreichend gewahrt.

Bezüglich Qualität und Quantität so richtig artfremd bewegen beziehungsweise „nichtbewegen“ wir uns mehrheitlich erst die letzten ein bis drei Generationen. Die Übertragung körperlicher Arbeit auf Maschinen, Kraftfahrzeuge und Aufzüge sowie sitzende Bürojobs gestatten uns ein Überleben mit einem Minimum an Bewegung und Muskelkraft. Wer dieses Angebot ohne sportlichen Ausgleich annimmt, dem droht früher oder später Ungemach. Denn ein evolutionär auf Trab programmierter Körper trägt ein hohes Risiko, vorzeitig krank und alt zu werden, wenn dieses Programm nicht oder kaum mehr zum Zuge kommt.

Das Bewegungspensum unserer jagenden und sammelnden Ahnen werden wir heute kaum noch erreichen. Aber wie viel sollte es schadensbegrenzend wenigstens sein? Welche Bewegungsmuster erscheinen aus evolutionstheoretischer Perspektive besonders empfehlenswert und warum sollten wir lieber auf Trampelpfaden denn auf Straßen laufen? Welchen Nutzen haben wir von einem Mehr an Bewegung zu erwarten? Wenden wir uns als erstes aber zunächst der Frage zu, warum und wie Bewegungsmangel überhaupt krank macht.

Was nicht genutzt wird, verkümmert

Wer nicht atmet, erstickt. Wer nicht trinkt, verdurstet. Wer nicht isst, verhungert. Wer sich nicht bewegt, verkümmert. Fast alle unsere Körperfunktionen und hier insbesondere auch der Stoffwechsel sind auf Bewegung angewiesen. So hat uns die Evolution geformt und daran kommen wir nicht vorbei. Die Erkenntnisliste der Krankheiten und Gesundheitsstörungen, die nachweislich durch Bewegungsmangel begünstigt werden, wird von Jahr zu Jahr länger. Bewegungsmangel lässt uns dick werden, Krampfadern an den Beinen sprießen und den Rücken leiden. Er fördert Diabetes sowie Bluthochdruck und macht uns anfälliger für vielfältige Herz-Kreislauf-Leiden bis hin zu tödlichen Herzinfarkten und Hirnschlägen. Das und dass man diesen Leiden sprichwörtlich davon laufen kann, weiß inzwischen fast jeder. Aber ist auch allgemein bekannt, dass die meisten uns heute heimsuchenden Volksleiden letztendlich Zivilisationskrankheiten sind, die man verhindern oder zumindest deutlich hinausschieben könnte, wenn wir uns gesünder = artgerechter ernähren (siehe Kapitel II) und mehr bewegen würden? Regelmäßige körperliche Aktivitäten stärken das Immunsystem und reduzieren etwa auch das Risiko für verschiedene Krebserkrankungen. Hämorrhoiden, Beckenbodensenkungen und Inkontinenz machen bewegungsfaulen Menschen häufiger zu schaffen als bewegungsfreudigen. Gutartige Prostatavergrößerungen, die viele Männer jenseits des fünfzigsten Lebensjahres mit häufigem Harndrang sowie tröpfelnden Harnentleerungen quälen und die zur Abkehr von Blasensteinen oder Harnverhalt früher oder später eine Operation erzwingen, kommen bei sportlichen Angehörigen des starken Geschlechts signifikant seltener vor als bei gleich alten aber unsportlichen. Ebenso ist Sport geeignet, Potenz und Libido zu erhalten beziehungsweise zu fördern.

Gelenkverschleiß ist außerhalb des Profisports nur selten eine Konsequenz von Überlastung, dafür umso öfter eine von Unterforderung. Denn ein trainiertes Muskelkorsett entlastet Gelenke und Bewegung ist, wie wir später noch sehen werden, eine wichtige Voraussetzung für die Nährstoffversorgung nicht durchbluteter Gelenkknorpel und Bandscheiben. Und sogar das Hirn wird sportlich geschützt. Demenzerkrankungen treffen körperlich Aktive seltener und später als körperlich Inaktive. Nicht zuletzt hebt ein bewegter Lebensstil unsere Laune. Regelmäßige körperliche Aktivitäten helfen uns maßgeblich bei der Stressbewältigung, lassen uns besser ein- und durchschlafen.

Viele Wissenschaftler sind überzeugt, dass ein adäquates Maß steter Bewegung für unsere Gesunderhaltung sogar bedeutsamer ist als so manche Ernährungskorrektur. So gilt inzwischen als gesichert, dass fitte Übergewichtige im Schnitt gesünder sind und eine höhere Lebenserwartung haben als unfitte Schlanke. Und auch wer bereits krank ist, verbessert in den meisten Fällen seine gesundheitliche Position durch regelmäßige körperliche Aktivitäten. Selbst bei Krankheiten wie einer schweren Herzinsuffizienz, bei der man früher zu weitestgehender Schonung riet, wird heute ein moderates, ärztlich überwachtes und individuell angepasstes Training angeraten. Bei vielen Patienten lassen sich damit der Schweregrad der Erkrankung und folglich auch die Alltagstauglichkeit wieder deutlich verbessern.

Vielleicht wird es in ein paar tausend Jahren fast unbewegten Daseins einen Menschenschlag geben, dem Inaktivität nichts mehr ausmacht; Menschen, deren  Organismus sich, eventuell unterstützt durch völlig neuartige Medikamente, diesen neuen Verhältnissen gut angepasst hat. Aber erstens ist das eher unwahrscheinlich, zweitens fraglich, wer das will und drittens würden wir, die wir im hier und jetzt leben, von dieser Zukunftsperspektive überhaupt noch nichts haben. Wir müssen heute dem Bewegungserbe unserer Ahnen Genüge leisten. In welchem Umfang, ist eine Frage von durchaus praktischer Relevanz.

Das richtige Maß

Abgesehen von Angehörigen immer seltener werdender Berufe wie Streckengehern bei der Bahn, Briefträgern oder Revierförstern, haben die meisten modernen Menschen gar nicht die Zeit, dem Bewegungspensum unserer Vorfahren auch nur annähernd zu entsprechen. Jäger und Sammler waren jeden Tag im Schnitt mindestens zehn bis 15 Kilometer gehend und laufend auf den Beinen. Bis vor noch nicht allzu langer Zeit war auch die tägliche Arbeit an ständige Bewegung geknüpft. Heute ist das für die meisten nicht mehr der Fall. Arbeit ist heute weitgehendes Stillsitzen. Umso wichtiger ist, in der knappen Freizeit für Ausgleich zu sorgen. Da wir selbstverständlich noch andere Bedürfnisse haben als Freizeitsport zu treiben, müssen wir abwägen, welches Pensum uns die günstigste Kosten-Nutzen-Relation bietet. Zwar liegt nahe, dass der gesundheitliche Nutzen durch sportliche Aktivitäten mit dem Ausmaß dieser Aktivitäten wächst, doch macht er das nicht linear. Sportwissenschaftlichen Untersuchungen zufolge dürfen Menschen, die aus körperlicher Inaktivität dazu übergehen, täglich eine halbe Stunde Sport zu treiben, einen erheblichen gesundheitlichen Nutzen von dieser Maßnahme erwarten. Wer täglich eine weitere halbe Stunde addiert, mehrt zwar seinen Nutzen weiter, aber nicht mehr in dem Ausmaß der ersten Runde. Jede zusätzliche halbe Stunde lässt den Benefit zusätzlich wachsen, doch wird der Zuwachs immer kleiner. Ehrgeizige Sportfreaks, die womöglich gezielt auf sportliche Erfolge hinarbeiten, wird dieser schrumpfende Grenznutzen nicht von Trainingssteigerungen abhalten. Wer sich allerdings allein aus Vernunftgründen sportlich betätigt, sollte sich vielleicht schon mit dem großen Gewinn des ersten kleinen Schrittes zufrieden geben. Denn lieber wenig aber anhaltend, als etwas mehr, das man dann aber auf Dauer nicht durchhält.

Wie wenig darf es sein

Wer wöchentlich mehrere Stunden auf dem Fußballplatz trainiert, über den Tennisplatz hetzt oder sonst wie ohnehin entsprechend sportlich aktiv ist, brauch diesen Absatz nicht weiter zu lesen. Aber wer bislang nur seine Kaumuskeln trainierte, könnte sich wenigstens die Mindestforderungen zu Herzen nehmen, die die EU 2008 in einer Gesundheitsrichtlinie in Anlehnung an WHO-Empfehlungen veröffentlicht hat. Erwachsene sollten sich demnach an fünf Tagen die Woche mindestens je 30 Minuten lang mäßig intensiv bewegen. In Frage kommen etwa leicht anstrengendes Radfahren, schnelles Gehen oder flottes Nordic Walking. Alternativ hätte man sich an drei Tagen die Woche je mindestens 20 Minuten lang intensiv zu bewegen: Etwa Joggen oder forcierteres Radfahren, bei dem man schon etwas heftiger als üblich atmen muss. Zudem sollte an zwei bis drei Tagen die Woche ein Krafttraining, das alle großen Muskelgruppen umfasst, absolviert werden. Das könnten zum Beispiel auch einfache isometrische Übungen sein, wobei Sie einzelne Muskelgruppen zehnmal hintereinander für jeweils zehn Sekunden maximal anspannen und ebenso lang wieder entspannen. Mehr ist besser, aber weniger ist immer noch besser als nichts. Zusätzlich zu gezielten Trainingseinheiten sollte man jedoch versuchen, seinen gesamten Alltag bewegungsintensiver zu gestalten. Denn:

Jeder Schritt zählt

  • Ihr Arbeitsplatz ist fünf Kilometer von ihrer Wohnung entfernt und Sie fahren bislang täglich mit dem Auto dorthin? Warum steigen Sie, zumindest bei trockenem Wetter, nicht auf das Fahrrad um. Wenn Sie den Parkplatzsuchverkehr abziehen, sind Sie genauso schnell vor Ort, haben was für Ihre Gesundheit, Ihren Geldbeutel und die Umwelt getan.
  • Wenn Sie mit dem Bus zur Arbeit fahren, steigen sie doch auf Hin- und Rückweg ein oder zwei Stationen früher aus und gehen Sie den Rest zu Fuß.
  • Ignorieren Sie jeden Lift und jede Rolltreppe. Wenn Sie schon etwas trainierter sind und jäger- wie sammlermäßig richtig Fersengeld geben, überwinden Sie ein, zwei oder gar mehr Stockwerke per pedes sogar schneller als mit der bequemen Technik.
  • Vielleicht haben Sie ja noch kleine Kinder, die Sie regelmäßig zum Spielplatz begleiten. Statt ihnen dort einfach nur beim Spielen zuzusehen, können Sie nebenbei und ohne Verletzung ihrer Aufsichtspflicht prima Muskeln trainieren. Machen Sie (angedeutete) Klimmzüge an der Sprossenleiter und Liegestütz sowie diverse Dehnübungen gegen die Parkbanklehne. Der Phantasie sind hier kaum Grenzen gesetzt und womöglich setten Sie auf „Ihrem“ Spielplatz einen neuen Trend.
  • Auch während der Arbeit ist es unauffällig möglich, einzelne Muskelpartien Ihres Körpers zu dehnen, zu strecken und zu kräftigen. Konkrete Anleitungen finden Sie beispielsweise im Internet mit dem Suchbefehl „Bürogymnastik“
  • Falls Sie eine sitzende Tätigkeit haben, nutzen Sie jede Gelegenheit, aufzustehen und ein paar Meter zu gehen. Je öfter, desto besser. Das kommt insbesondere Ihren Beinvenen zugute, in denen sich beim Sitzen das Blut ungesund staut.
  • Alles, was Sie motiviert, mehr zu gehen, sollten Sie nützen. So können etwa Schrittzähler oder auch modernste Fitness-Uhren, die  GPS-gestützt die gegangene Strecken aufzeichnen und automatisch auf Ihren PC übertragen, ein zeitgemäßer Ansporn zu mehr Bewegung sein.

Gewichtsorientiert variables Trainingspensum

Gegen Übergewicht gibt es nur zwei Stellschrauben: Weniger beziehungsweise energieärmer essen (siehe Kapitel II) oder mehr bewegen. Je mehr Sport Sie treiben, desto mehr Ernährungssünden können Sie damit kompensieren. Eine gute Motivation um seine sportliche Betätigung zu steigern, kann das tägliche Wiegen sein. Sind sie am Morgen eines Tages genauso schwer oder gar einige Gramm schwerer als am Morgen desVortages, müssen Sie an diesem Tag etwas weniger/bewusster essen und/oder etwas mehr Sport treiben als am Vortag beziehungsweise noch eine Bushaltestelle früher aussteigen. Falls Sie die Waage am nächsten Morgen dafür immer noch nicht belohnt, waren Sie entweder nicht ehrlich mit sich oder Sie müssen noch ein kleines bisschen mehr an beiden oder einer ihrer Stellschrauben drehen. Probieren Sie es aus. Sie werden sehen, wie gut dieses System der kleinen Schritte klappt. Selbst wenn Sie damit pro Woche im Schnitt nur 100 Gramm abnehmen, summiert sich das übers Jahr auf gute fünf Kilogramm. Und das ist dann meist schon sichtbar.

Um sportlich das Gewicht zu halten oder Übergewicht abzubauen, zählt nicht nur der unmittelbare Energiemehrverbrauch während einer körperlichen Belastung. Der ist gar nicht sonderlich spektakulär. Weit stärker zehrt an den Pfunden, dass trainierte Menschen mehr Muskelmasse und damit auch einen erhöhten Energiegrundumsatz haben. Die Tüte Chips vor dem Fernseher steckt der Trainierte also sogar beim Lümmeln leichter weg als der Untrainierte.

Die artgerechtesten aller Bewegungen: Gehen und Laufen

Für welchen Sport Sie sich entscheiden, ist sekundär, stellen Sportwissenschaftler und Sportpädagogen klar. Hauptsache ist, Sie tun überhaupt etwas. Und damit Sie die Sache möglichst lange durchhalten, sollten Sie sich die Sportart aussuchen, die ihnen am meisten Spaß macht.

Das ist sicher alles richtig. Und was den Herz-Kreislauf-Nutzen betrifft, ist es wahrscheinlich wirklich egal, ob Sie eine vergleichbare Ausdauerbelastung laufend, schwimmend oder auf dem Fahrrad leisten. Evolutionstheoretisch kommt man allerdings nicht umhin, für Gehen und Laufen als die gesündesten weil artgerechtesten aller Sportarten zu argumentieren.

Über sieben Millionen Jahre lang perfektioniert

Fossilienfunde erlauben den Schluss, dass frühe, noch äffische und in afrikanischen Savannen angesiedelte Vorfahren des Menschen bereits vor über sieben Millionen Jahren zunehmend aufrecht gingen. Als mögliche Vorteile dieser Verhaltensänderung werden diskutiert:

  • Aufrecht waren unsere höchstens schimpansengroßen Vorfahren schlichtweg größer. Sie konnten damit in der offenen Savannenlandschaft Fressfeinde früher erspähen und ihnen damit eher entkommen als sich vierbeinig fortbewegende Zeitgenossen.
  • In den heißen Savannen Afrikas wurde durch den aufrechten Gang die direkt von der Sonne beschienene Körperoberfläche  und damit die Hitzebelastung reduziert.
  • Da die Vordergliedmaßen nicht mehr zum Gehen gebraucht wurden, waren sie frei für andere Tätigkeiten.
  • Aufrecht auf zwei langen Hinterbeinen, lief es sich am Boden schneller und ausdauernder als etwa auf Füßen und Fingerknöcheln nach Schimpansenart.

Von den ersten aufrechten Schritten hatte die Evolution bis zum Homo sapiens sieben Millionen Jahre und vielleicht sogar noch länger Zeit, den aufrechten Gang zu perfektionieren. Unsere gesamte Anatomie und fast alle unsere Köperfunktionen sind dem aufrechten Gehen, Laufen und Spurten angepasst. Und kommen wir diesen uns eigenen Fortbewegungsarten nicht mehr in ausreichendem Umfang nach, drohen ein vorzeitiger Verschleiß anatomischer Strukturen und aus dem Takt geratende Körperfunktionen.

Die für uns vielseitigste aller Sportarten

Gehen, Laufen und Spurten trainiert unseren gesamten Körper. Selbst wer sportlich nichts anderes macht, bietet mit dieser Trias seinem Herz-Kreislauf-System, seiner Atemfunktion, seinen Muskeln und Gelenken ein ausreichend abwechslungsreiches Training. Exklusives Radfahren mit gleicher Intensität, würde ohne Ausgleichsgymnastik früher oder später in muskuläre Dysbalancen münden. Selbst die Psyche profitiert vom Laufen mehr als von anderen Sportarten. „The Runners High“ ist ein Privileg von Langstreckenläufern, das etwa Radfahrer nicht in gleichem Umfang erwarten dürfen. Vielleicht sind es die Momente der kurzen Schwerelosigkeit zwischen jedem Schritt, die zu diesem von körpereigenen Opiaten entfachtem Hochgefühl beitragen.

Lebenselixier für Bandscheiben und Gelenkknorpel

Bandscheiben und Gelenkknorpel sind nicht durchblutet. Versorgt werden diese Strukturen durch die sie umgebende Gewebeflüssigkeit. Bandscheiben und Gelenkknorpel verhalten sich dabei wie ein Schwamm. Bei Entlastung dehnen sie sich aus und saugen nährstoffhaltige Flüssigkeit auf. Bei Belastung werden sie komprimiert und Gewebewasser, dem bereits Nährstoffe entzogen wurden, wird aus Bandscheiben und Gelenkknorpeln wieder heraus gepresst. Gehen und Laufen garantieren eine rhythmische Be- und Entlastung von Bandscheiben und Gelenkknorpeln und damit deren optimale Versorgung. Die bei uns weit verbreiteten Gelenk- und Bandscheibenprobleme sind weit häufiger Folge von zu wenig als von zuviel artgerechter Belastung. Je mehr Sie gehen und laufen, nach Möglichkeit auf natürlichem Untergrund (siehe unten), desto weniger sollten Ihre Bandscheiben und Gelenke zum Problem werden. Zum einen, weil sie optimal ernährt werden und zum anderen, weil bereits ausgiebiges strammes Gehen und Laufen ein Muskelkorsett schaffen, das unsere Bandscheiben und Gelenke gut stützt und damit schützt.

Muskelpumpe für die Venen

Unser Herzschlag treibt den Blutstrom durch die Arterien. Den Rückstrom aus den Venen kann das Herz allerdings allein nur unzureichend bewältigen. Insbesondere, um das venöse Blut aus den Beinen gegen die Schwerkraft zurück zu Herz und Lunge zu transportieren, bedarf es einer hoch effektiven zusätzlichen Muskelpumpe. Bei jedem Schritt kontrahieren unsere Beinmuskeln und pressen das venöse Blut nach oben.

Sitzen wir, geht der venöse Rückfluss infolge der nun weitgehend fehlenden Muskelpumpe nur sehr träge von statten. Es besteht Staugefahr, die durch die abgeknickte Beinhaltung beim Sitzen noch verschärft wird. Auf Dauer werden unsere Venen dadurch überdehnt. Die Venenklappen, die wie Ventile das Blut nur in eine Richtung fließen lassen, schließen nicht mehr richtig und sie werden schwach. Jetzt kann nicht mal mehr Bewegung für einen optimalen venösen Blutfluss aus den Beinen sorgen. Sie werden schwer, schwellen an und früher oder später machen Krampfadern das Venenleiden sichtbar. Akuter und chronischer Venenstau mehren das Risiko für eine akute Verklumpung von Blut in den Venen. Besonders wenn sich eine solche so genannte Venenthrombose im tiefen Beinvenensystem entwickelt, kann der Blutpfropf bis in die Lungen gespült werden. Es kommt zu einer Lungenembolie, an der allein in Deutschland jährlich 25- bis 30.000 Menschen sterben.

Zwar begünstigen eine genetische Veranlagung zu Venenschwäche sowie ebenfalls angeborene Gerinnungsfaktorenanomalitäten chronische und akute Venenerkrankungen oder -komplikationen. Doch kommen diese Veranlagungen offensichtlich erst zum Tragen, wenn sie auf bewegungsarme Lebensverhältnisse stoßen. Bei Naturvölkern gibt es diese in westlichen Zivilisationen weit verbreiteten akuten und chronischen Venenerkrankungen so gut wie nicht. Ihr bewegter Alltag sorgt für eine stete Muskelpumpe, die das venöse Blut im Fluss und die Venen in Schuss hält.

Dreimal die Woche mindestens eine halbe Stunde zu laufen, kommt natürlich auch den Venen zugute und von jedem zusätzlichen Schritt im Alltag profitieren sie ebenfalls. Möglicherweise sind gerade die Venen auf kleine Bewegungen zwischendurch angewiesen. Denn neueste Statistiken haben mit der Erkenntnis überrascht, dass selbst bei intensiven Freizeitsportlern das Krankheits- und Sterberisiko mit der Zeit täglichen Sitzens ansteigt. Möglicherweise genügt es gerade den Venen nicht, zwar mehrmals die Woche kräftig durchgepumpt zu werden, um dann aber wieder stundenlang bis tagelang in stauungsfreudiger Untätigkeit zu verharren. Deshalb sei es so wichtig, sitzende Tätigkeiten immer wieder zu unterbrechen. Solange hier Interventionsstudien das richtige Maß für kleine Bewegungen zwischendurch noch nicht gefunden haben, sollten sich beruflich Sitzende bemühen, mindestens stündlich für ein paar Schritte, Zehenstände, Kniebeugen oder andere Muskelpumpenfördermaßnahmen aufzustehen. Eine konkrete Empfehlung in diesem Sinne lautet etwa auch, für Telefonate grundsätzlich aufzustehen. Wer kann, sollte dafür Sorge tragen, dass sein Telefon vom Sitzplatz weiter als eine Armlänge entfernt ist.

Radgerechte Wege sind nicht fußgerecht

Den meisten Wanderern ist dieses Phänomen wohlbekannt: Während man selbst auf steinigen Gebirgssteigen tagelange Touren zumindest in eingelaufenen Schuhen blasenfrei zurücklegt, kommt es bereits auf kürzeren Asphaltetappen nahezu obligat zu den kleinen, das Gehen zur schmerzhaften Angelegenheit machenden flüssigkeitsgefüllten Hautwölbungen; selbst in guten und eingelaufenen Schuhen. Der Grund ist, dass ebene Wege rad- aber nicht fußgerecht sind. Auf planen Wegen wird die Haut der Fußsohle stets an der gleichen Stelle belastet, was Sie auf Dauer nicht aushält. Sie wirft Blasen.

Plane Böden führen aber nicht nur zu punktuellen Überlastungen der Fußsohlenhaut. Auch Muskeln, Gelenken, Sehnen und Bändern wird zu wenig Variation geboten. Einige funktionelle Einheiten unseres Bewegungsapparates werden damit über- und andere unterfordert. Muskuläre Dysbalancen, Verschleiß und Verletzungsgefahr werden begünstigt.

Das verwundert wenig. Denn unseren Körperbau hat die Evolution nicht Straßen, Wegen und Hallenböden angepasst sondern einer natürlichen Umwelt mit ständig wechselnden Untergründen. Mal weich, mal hart, mal durch Wurzeln und Steine besonders uneben gemacht. Nur auf einem derart natürlichen Untergrund werden alle Komponenten unseres Bewegungsapparates einschließlich verletzungsverhütender Reflexe ausreichend gefordert und damit gefördert.

Hätten Evolutionsanthropologen bei Stadtplanungen was mitzureden, würden Bürgersteige wahrscheinlich wie Trampelpfade aussehen. Daneben bräuchte es selbstverständlich schon noch eine Spur für Menschen, die auf Räder angewiesen sind; etwa für Rollstuhlfahrer, Rollator- und Kinderwagenschieber. Das wäre alles leicht machbar. Aber dennoch wird es so schnell nicht kommen. Und deshalb müssen Sie selbst für artgerechte Untergrundverhältnisse sorgen. Nicht nur wegen der besseren Dämpfung sondern auch aus den eben genannten Gründen sollten Sie deshalb bevorzugt auf natürlichen Wegen laufen. Über Waldböden, über Wiesen und Rasenflächen, über Sandstrände und Kiesbänke und im Winter durch den Schnee.

Am Anfang, weil man es nicht mehr gewohnt ist, mag die Verletzungsgefahr auf natürlichen Böden sogar etwas höher sein als auf planierten. Und deshalb verlässt man bequeme Wege zunächst vielleicht besser „nordic walkend“ denn joggend. Aber schon innerhalb kurzer Zeit nimmt das Risiko, umzuknicken und sich ein Gelenkt zu verstauchen oder sogar einen Knochen zu brechen, stetig ab. Auch im Alltag kommen wir dann dank derart wiedererweckter Reflexe und muskulärer Stabilisatoren besser mit ungünstigen Wegeverhältnissen, etwa winterlichem Glatteis, zurecht. Im Profisport wird neben Geländeläufen zunehmend auch auf Übungseinheiten mit Wippkreiseln beziehungsweise Balanceboards gesetzt, um auf ebenen Flächen unzureichend geschulte Reflexe und gelenkstützenden Muskelstrukturen verletzungsverhütend auf Vordermann zu bringen. Entsprechende Wippkreisel und Balanceboards gibt es für wenig Geld zu kaufen und sind auch für Freizeitsportler eine lohnende Anschaffung.

In wenigen Monaten zum Dauerläufer

Wer die Vorteile regelmäßigen Dauerlaufens am eigenen Leib und am eigenen Gemüt erfahren hat, wird kaum mehr damit aufhören. Die große Hürde ist, seit langem Untätige für diese artgerechteste aller Sportarten, für die man nichts weiter braucht als einfachste Sportkleidung und ein Paar guter Laufschuhe, zu motivieren. Und so mancher, der es wenigstens versucht, beendet sein Laufabenteuer sofort wieder sobald er die Erfahrung macht, schon nach wenigen Metern aus der Puste zu geraten. Deshalb ist es wichtig, langsam anzufangen, um sich am schnell wachsenden Trainingserfolg zu erfreuen. Das folgende Einsteigerprogramm ist für bislang inaktive Laufanfänger mittleren Alters gedacht. Wer schon etwas mehr Grundfitness hat, kann sich durchaus etwas schneller fortentwickeln. Aber wie gesagt, falscher Ehrgeiz ist fehl am Platz.

Wichtig ist, dass man sich während des Ausdauertrainings und vor allem danach wohl fühlt. Nach einem guten Ausdauertraining strotzt man eher vor Tatendrang als dass man erschöpft auf der Couch liegen will. Wem nur noch nach Ausruhen ist, der hat sich wahrscheinlich übernommen und sollte das nächste Mal einen Gang herunter schalten.

Um auf der sicheren Seite zu stehen, sollten Laufeinsteiger, insbesondere wenn sie bislang seit vielen Jahren fast gar keinen Sport gemacht haben und älter als 35 Jahre sind, sich grünes Licht bei ihrem Hausarzt holen.

Fieber = Sportverbot

Menschen, die regelmäßig mehrmals die Woche bei Wind und Wetter in frischer Luft laufen oder sich anderweitig ähnlich intensiv und ausgiebig bewegen, sind in der Regel auch seltener erkältet als Sportmuffel. Ist man aber bereits erkältet, ist jede Anstrengung tabu. Denn ansonsten kann sogar ein gesundes, gut trainiertes Herz Schaden nehmen. Nach einer fieberhaften Erkältung sollte man sich noch mal die gleiche Zeit, wie die Erkältung gedauert hat, mit Spazierengehen zufrieden geben.

Auswahl der Laufstrecke

Suchen Sie sich eine Laufstrecke, für deren Bewältigung Sie gehend etwa eine Stunde brauchen (bitte ausprobieren!). Sie sollte nicht allzu weit von Ihrer Wohnung entfernt, aber nach Möglichkeit landschaftlich ansprechend sein. Infrage kommen etwa ein Stadtwald, ein Park oder ein Uferweg. Der Untergrund sollte nach Möglichkeit nicht asphaltiert sein. Wenn Sie mal routinierter Läufer sind, werden Sie Ihre Laufstrecken wohl des Öfteren wechseln. Aber zum Aufbau ihrer Leistung und um den Trainingserfolg bestmöglich zu erfahren, ist die vorerst immer gleiche Strecke ideal. Verschiedene Wetterlagen, der Lauf der Jahreszeit und der in Abhängigkeit von Uhr- und Jahreszeit wechselnde Gesang der Vögel sollten genug Abwechslung garantieren.

Versuchen Sie, dreimal in der Woche auf ihrer Strecke zu gehen/laufen. Aber es müssen nicht immer der gleiche Wochentag und die gleiche Uhrzeit sein. Regen ist kein Hindernis. Auch wenn Sie nass werden, brauchen Sie sich vor einer Erkältung nicht zu fürchten solange Sie in Bewegung bleiben und nach dem Sport – geduscht oder auch ungeduscht (siehe Kapitel V) – schnellstmöglich in trockene Sachen schlüpfen.

Minutenweise immer länger laufen und immer kürzer gehen

Jetzt geht es los! Beginnen und beenden Sie jetzt und zukünftig jede ihrer Runden mit einer fünfminütigen zügigen Gehetappe. Nur wenn Sie ohnehin zu Fuß zu ihrer Laufrunde kommen, erübrigt sich diese gesonderte Aufwärm- und Abklingphase.

Die erste Woche gehen Sie ganz gemütlich an. Eine Minute laufen, fünf Minute gehen. Das wiederholen Sie solange, bis sie Ihre Runde durch sind. Genießen Sie jetzt und auch später bewusst jede Pausen entspannten Gehens.

Wenn Sie das in der ersten Woche an drei Tagen gemacht haben, sind Sie sicher fit für die Anforderung der zweiten Woche. In der laufen Sie zwischen jeder fünfminütigen Gehpause zwei Minuten bis Sie mit ihrer Runde fertig sind. Wann immer Sie bei einer Steigerung aus der Puste kommen, trainieren Sie eine weitere Woche auf dem noch problemlosen Niveau der Vorwoche.

In der dritten Woche laufen Sie zwischen jeder fünfminütigen Gehpause drei Minuten, in der vierten Woche vier Minuten und in der fünften Woche fünf Minuten.

Jetzt ist es an der Zeit, Pausenminuten abzubauen. Laufen Sie in der sechsten Woche fünf Minuten und gehen dann nur vier Minuten. Danach wechseln Sie wieder alle fünf Minuten zwischen Laufen und Gehen. In der siebten Woche laufen Sie fünf Minuten, dann drei Minuten Gehpause und dann wieder bis zum Schluss alle fünf Minuten zwischen Gehen und Laufen wechseln. In der achten und neunten Woche geht es mit fünfminütigen Laufetappen weiter, jedoch verkürzen Sie die erste Gehpause auf zwei Minuten und dann auf eine.

In der zehnten Woche fällt die erste Pause ganz weg. Sie laufen jetzt zehn Minuten durch, um dann wieder alle fünf Minuten zwischen Gehen und Laufen zu wechseln.

In den nächsten Wochen geht es nach dem gleichen Modus schrittweise der zweiten Gehpause an den Kragen. Nach 15 Wochen sollten Sie damit 15 Minuten durchlaufen, bevor Sie in den Folgewochen die nächsten Gehpausen Minute für Minute abschaffen.

Früher oder später werden Sie auf diese Weise die ganze Runde ohne Pause und dennoch ohne außer Atem zu kommen durchlaufen. Mit Ihrer Runde, für die Sie eingangs ausschließlich gehend etwa eine Stunde brauchten, sind Sie jetzt vielleicht in einer dreiviertel Stunde fertig. Wer will, kann nun die Strecke oder die Geschwindigkeit beziehungsweise beides steigern. Im letzten Drittel Ihrer Laufstrecke darf und soll es bei Gesunden jetzt auch mal ein kurzer Spurt sein um Herzschlag und Atmung jägergerecht auf Touren zu bringen.

Sollten Sie beim Laufen Ihre Hüft-, Knie- oder Sprunggelenke spüren, wäre eine Alternative forciertes Nordic Walking. Werden dabei die Beschwerden schnell besser, sollten Sie ausprobieren, wieviele Nordic Walking-Tage Sie einschieben müssen um eine Runde wieder schmerzfrei joggen zu können. Nach einigen Wochen sollte sie dann schauen, ob Ihre inzwischen besser trainierten Muskeln und Gelenke wieder häufigeres Laufen tolerieren oder gar keinen Wechsel zu Nordic Walken mehr benötigen.

Das Bewegungskapitel in Stichpunkten

  • Bis vor noch nicht allzu langer Zeit war Nahrungserwerb zwangsläufig an Bewegung geknüpft. Bewegungsmangelerkrankungen waren damit eine absolute Rarität.
  • Die meisten von uns sind nicht mehr gezwungen, bewegt zu leben. Im Interesse unserer Gesundheit und unseres Wohlbefindens sollten wir es aber freiwillig tun.
  • Jäger und Sammler waren wohl täglich 10 bis 15 Kilometer auf den Beinen.
  • Wahrscheinlich wäre umso besser, je mehr wir uns dieser evolutionären Vorgabe annähern.
  • Da die meisten Zeitgenossen dazu keine Zeit und keine Lust haben, ist ein Kompromiss mit möglichst günstiger Aufwand-Nutzen Relation angesagt.
  • Unter dieser Prämisse empfehlen Sportwissenschaftler und -mediziner, sich an mindestens drei Tagen die Woche mindestens zwanzig bis dreißig Minuten sportlich zu betätigen. Wer nicht ohnehin einen laufintensiven Sport wie Fuß- oder Handball ausübt, sollte seine sportliche Mindestvorgabe mit flottem Radfahren, forciertem Nordic Walking oder mit Joggen erfüllen.
  • Versuchen Sie zudem, ihren Alltag bewegter zu gestalten. Also Lifte und Aufzüge meiden und so oft wie möglich mit dem Fahrrad anstatt mit dem Auto ins Büro.
  • Unabhängig wie sportlich man in seiner Freizeit ist, gilt langes Sitzen als Gift für unsere Beinvenen. Menschen in sitzenden Berufen sollten deshalb so oft wie möglich ihre Füße bewegen um ihre Muskelpumpe zu aktivieren. Schon ein paar Zehenstände oder Schritte pro Stunde sind für den venösen Rückfluss viel besser als nichts.
  • Radgerechte Wege sind nicht fußgerecht. Also zum Walken oder Joggen ins Gelände oder zumindest auf nicht asphaltierte Wege mit möglichst natürlichem, stoßdämpfendem Untergrund.
  • Laufen ist die artgerechteste aller Bewegungen. Es hält nicht nur Herz-Kreislauf- und Stoffwechselfunktionen sondern auch unseren gesamten Bewegungsapparat in Schuss.
  • Fast jeder hat das Zeug zum Dauerläufer und wer mal damit angefangen hat, hört meistens nicht mehr auf sobald er die vielfältigen positiven Konsequenzen am eigenen Leib verspürt: Höheres Wohlbefinden, leichtere Gewichtskontrolle, mehr Stresstoleranz, schnelleres Ein- und besseres Durchschlafen, keine Angst mehr, bei betrieblichen oder freundschaftlichen Wanderausflügen den anderen aus dem letzten Loch hinterher zu pfeifen.
  • So gesund Sport im Normalfall ist: Bei fieberhaften Erkältungen ist jede körperliche Anstrengung für einige Tage tabu.
  • Bewegung unter Sonnenlicht schlägt zwei Fliegen mit einer Klappe. Warum, erfahren Sie im nächsten Kapitel.

Kapitel IV: Lichtverirrungen

Wir ernähren uns falsch und bewegen uns zu wenig. Wenngleich auch diese Erkenntnis noch viel zu selten in die Tat umgesetzt wird, ist sie zumindest den meisten bekannt. Der chronische Lichtmangel, den uns das moderne inhäusige Leben aufbürdet, ist dagegen selbst in den Köpfen vieler Mediziner noch nicht richtig angekommen. Im Gegenteil: Aus überzogener Sorge um die Hautgesundheit wird das Problem sogar von ärztlicher Seite oft noch verschärft.

Ein wichtiger Indikator für unseren Lichtmangel sind bedenklich niedrige Vitamin D-Spiegel, die wir im Vergleich zu ursprünglich lebenden Naturvölkern oder aber auch zu modernen Menschen, die beruflich vorwiegend unter freiem Himmel arbeiten, haben. Niedrige Vitamin D-Spiegel sind nachweislich mit einer Vielzahl von Krankheiten und Befindlichkeitsstörungen verknüpft.

Wie sähe die aus evolutionstheoretischer Sicht richtige Sonnenlichtdosis aus? Würden wir damit womöglich unsere Haut schädigen und das Hautkrebsrisiko steigern? Ob und inwieweit ist bei fortgesetztem Lichtmangel die Zufuhr von Vitamin D eine schadensbegrenzende Alternative? Welche Dosen sollten es dann sein? Antworten auf solche und weitere Fragen finden Sie in diesem Kapitel.

Während wir am Tag im Vergleich zu unseren Ahnen viel zu wenig Licht tanken, bekommen wir des Nachts heute weit mehr davon ab als es unserer Evolution entspricht. Auch das vermag Gesundheit und Wohlbefinden zu bedrohen. Warum und was man dagegen tun kann, ist ebenfalls Gegenstand dieses Kapitels.

In moderner Dunkelhaft

Unsere Ahnen mögen ja in dunklen Höhlen und Unterständen genächtigt haben. Bis zur industriellen Revolution verbrachten die Menschen aber die meiste Zeit des Tages unter freiem Himmel bei ungefiltertem Licht. Und genau diesen Verhältnissen hat uns die Evolution angepasst. Wir sind biologisch Tagtiere, was unter anderem die schlechte Nachtsicht verrät, über die wir im Vergleich zu dämmerungs- und nachtaktiven Säugetieren verfügen.

Heute verbringen wir völlig artungerecht die meiste Zeit des Tages in geschlossenen Räumen. Selbst unter starker künstlicher Beleuchtung oder bei großen Fenstern sind wir dort von natürlichen Lichtverhältnissen weit entfernt. So sind wir unter freiem Himmel an einem wolkenlosen Sommertag im Juli einer Beleuchtungsstärke von rund 100.000 Lux ausgesetzt. An einem trüben Winternachmittag im Dezember ist in unseren Breiten unter freiem Himmel immerhin noch eine Beleuchtungsstärke von 3000 Lux zu erwarten. In geschlossenen Räumen schaut es demgegenüber selbst bei subjektiv heller Beleuchtung im wahrsten Sinne des Wortes duster aus: 100 bis 1500 Lux. Mehr ist drinnen so gut wie nie drin.

Die mehr oder weniger freiwillige Dunkelhaft betrifft zunehmend auch schon unsere Kinder. Wenn ich mich an meine eigene Kindheit zurück erinnere, verbrachten wir nach Schulschluss nahezu die gesamte Freizeit im Freien. Stubenhocker, damals seltene Ausnahmen, sind heute die Regel. Schuld sind nicht nur wachsende Schulanforderungen. Raffinierte Computerspiele und alle möglichen Downloads machen heute das Kinderzimmer für viele attraktiver als es Verlockungen unter freiem Himmel vermögen. Freizeitsport findet oft in Hallen statt und sogar der Schulweg ist heute meistens überdacht: Anstatt wenigstens bei schönem Wetter ein paar Meter zu gehen oder mit dem Rad zu fahren, werden die Kinder von Schulbussen oder überbesorgten Eltern im Auto gebracht und geholt.

Insbesondere auch Licht mit Wellenlängen im ultravioletten UV-B Bereich bleibt in Innenräumen ausgesperrt. Das mag vielleicht die Hautalterung etwas verlangsamen, gesund ist es aber wohl trotzdem nicht. Denn unser Körper braucht helles Licht und insbesondere auch das sogar durch dünnes Glas ausgesperrte UV-B-Licht, um regelrecht zu funktionieren. Der Lichtmangel, den unser modernes weitgehend inhäusiges Leben bedingt, ist übrigens unumstritten. Lediglich über die gesundheitliche Relevanz gehen die Meinungen noch auseinander. Zu denken geben sollten aber nicht zuletzt Beobachtungen, wonach auf der Nordhalbkugel bei zahlreichen Erkrankungen, insbesondere bei Autoimmunerkrankungen wie Multipler Sklerose (MS) oder Typ 1-Diabetes („Jugendzucker“) und auch bei einigen Krebserkrankungen, ein deutliches Häufigkeitsgefälle von Nord (weniger Sonnenbestrahlung) nach Süden (mehr Sonne) besteht.

Ein wichtiges Warnsignal, dass wir in unserem täglichen modernen Leben zuwenig Sonnenlicht abbekommen, sind stark erniedrigte Vitamin D-Spiegel im Blut. Obwohl diese wachsenden Erkenntnissen zufolge an einer Vielzahl von Gesundheitsstörungen beteiligt sein könnten, herrscht unter Wissenschaftlern zu verbindlichen Grenzwerten noch große Uneinigkeit. Was dem einen noch ein zufrieden stellender Wert ist, gilt dem anderen bereits als bedenklicher Mangelzustand.

Vitamin D – Das Sonnenhormon

Im Biologieunterricht der Schule haben Sie wahrscheinlich noch gelernt, dass Vitamine Stoffe sind, die der Körper zum regelrechten Funktionieren braucht, die er aber nicht selbst herstellen kann, weshalb sie mit der Nahrung zugeführt werden müssen. Diese Definition ist auch meistens richtig. Speziell für Vitamin D trifft sie aber nicht zu. Tatsächlich werden kleine Mengen unseres Vitamin D-Bedarfs über die Nahrung aufgenommen. Den weitaus größten Teil stellt der Körper aber selbst aus Cholesterin her – und zwar in der Haut. Das aber nur, wenn genügend ungefiltertes Sonnelicht im UV-B-Bereich die Haut bescheint. Aufgrund dieser Eigenherstellung im Körper und auch in Würdigung seiner großen Bedeutung für den Hormonhaushalt des Organismus, wird Vitamin D wissenschaftlich eher als Hormon denn als Vitamin betrachtet.

In unseren Breiten ist die Sonne nur von Ende März bis Anfang Oktober stark genug, um die körpereigene Vitamin D-Produktion anzukurbeln. Während von Juni bis August die längste Zeit des hellen Tages (ca 9 bis 17 Uhr) zum Sonnentanken geeignet erscheint, ist man für die sonneninduzierte Vitamin D-Synthese in Frühjahr und Herbst auf sonnenintensive Mittagsstunden bei unbewölktem Himmel angewiesen. Mehr dazu später.

Optimale Vitamin D-Spiegel – eine Frage der Perspektive

Normwerte spiegeln Durchschnittswerte einer gesunden, ausreichend großen Bevölkerungsstichprobe wider. Wenn nun aufgrund mehrheitlich nicht mehr artgerechter Lebensverhältnisse die Mehrheit der Bevölkerung zu niedrige Vitamin D-Spiegel hat, kommt man leicht zu suboptimalen Normwerten. Doch wie lassen sich dann tatsächlich optimale Normwerte ermitteln? Zum Beispiel, indem man Werte von Menschen zugrunde legt, die noch einer halbwegs artgerechten Sonnenlichtexposition ausgesetzt sind.

Gemessen wird der Vitamin D-Status eines Menschen anhand der 25-Hydroxycholecalciferol (25-OH-D3)-Spiegel im Blut. Dabei handelt es sich gewissermaßen um eine zirkulierende Speicherform von Vitamin D. Repräsentative Untersuchungen haben in Deutschland einen durchschnittlichen 25-OH-D3-Wert von 16 ng pro ml (ng/ml) Blut ermittelt, wobei die Werte im Sommer höher als im Winter sind. Bei tropischen Naturvölkern und zum Teil auch bei modernen aber hoch sonnenexponierten Menschen wie Strandaufsehern oder Dachdeckern wurden Werte von 55 bis 90 ng/ml ermittelt. Dass es unbedingt so hoch sein muss, fordert nicht mal der deutsche Vitamin D-Papst Dr. med. Raimund von Helden, der in zahlreichen Büchern und Veröffentlichungen mit beeindruckenden Beispielen für den therapeutischen und vorbeugenden Nutzen einer verbesserten Vitamin D-Versorgung wirbt. Aber über 30 ng/ml sollten es ihm nach mindestens sein. Angesicht eines Durchschnittswertes von 16 ng/ml dürfte die Mehrheit der Deutschen weit von diesem Ziel entfernt sein. Selbst bei konservativen Schulmedizinern, die in Übereinstimmung mit aktuellen Empfehlungen der Deutschen Gesellschaft für Ernährung (DGE) noch einen Grenzwert von 20 ng/ml für ausreichend befinden, sollten da die Alarmglocken klingen. Es besteht mehrheitlich Interventionsbedarf. Inwieweit das auch für Sie zutrifft, lässt sich am einfachsten anhand einer Blutprobe mit Vitamin D-Spiegel-Messung abschätzen. Das kostet rund 30 Euro und wird von den meisten Krankenkassen leider (noch) nicht erstattet. Primärer Ansprechpartner ist der Hausarzt.

Vitamin D-Mangelerscheinungen

Rachitis und Osteomalazie

Die bekanntesten aber im Vollbild heute eher seltenen Vitamin D-Mangelerkrankungen sind die Rachitis beim Kind und das Pendant beim Erwachsenen, die Osteomalazie. Vitamin D reguliert unter anderem den Stoffwechsel von Kalzium und Phosphat und sorgt für den Einbau dieser Mineralien in den Knochen. Der Knochen wird dicht und hart.

Bei einem sehr ausgeprägten Vitamin D-Defizit droht diese Knochenmineralisation massiv gestört zu werden. In der Folge kann es zu Knochenerweichungen mit Verformungen im gesamten Skelettbereich wie O-Beinen, Wirbelsäulenverkrümmungen oder flachem Hinterkopf bei Rückenlage kommen. Erste Hinweise auf eine solche Knochenerweichung können rheumaartige Schmerzen sein, die besonders in gewichtstragenden Körperregionen unter Belastung beklagt werden. Bei Kindern leidet zudem die Zahnentwicklung und auch unerklärliche Unruhe kommt als erster Hinweis auf einen kritischen Vitamin D-Mangel infrage. Da Babys heute zumindest im ersten Lebensjahr und oft auch noch im Winter des zweiten Lebensjahres flächendeckend eine Versorgung mit Vitamin D-Präparaten erfahren, kommt eine ausgeprägte Rachitis bei uns kaum noch vor. Zur Häufigkeit der Osteomalazie gibt es keine verlässlichen Zahlen.

Osteoporose

Im Gegensatz zur Osteomalazie, werden bei der Osteoporose die Knochen nicht weich-verformbar sondern porös-brüchig. Die Osteoporose gilt als Volkskrankheit, die mit dem Alter zunimmt. Laut einer großen von 2009 bis 2013 durchgeführten Studie (Bone Evaluation Study BEST), in der Abrechnungsdaten von über 300.000 gesetzlich Versicherten ausgewertet worden sind, leidet in der über 74-jährigen deutschen Bevölkerung rund ein Drittel an Osteoporose. Um dieser mit einem hohen Knochenbruch- und Invaliditätsrisiko einhergehenden Erkrankung vorzubeugen beziehungsweise ihre Manifestation möglicht lange hinaus zu zögern, gilt es, in Kindheit, Jugend und jungem Erwachsenalter möglichst viel Knochensubstanz aufzubauen, im Erwachsenenalter möglichst viel dieser Knochensubstanz zu erhalten und im Alter den beschleunigten Abbau an Knochensubstanz zu bremsen. In allen diesen drei Phasen sind drei Faktoren für einen bestmöglichen Knochenstatus entscheidend:

  • Stete Krafteinwirkung auf den Knochen, was vor allem heißt, sich möglichst viel und artgerecht zu bewegen (siehe Kapitel III);
  • eine artgerechte Ernährung mit ausreichendem Kalziumanteil (siehe Kapitel II)
  • eine gute Vitamin D-Versorgung, die am artgerechtesten über eine ausreichende Sonnenexposition gewährleistet wird (siehe unten).
Andere Vitamin D-Mangelerkrankungen noch umstritten

Es wird vermutet, dass ein Mangel an Vitamin D noch zahlreiche andere, nicht skelettale Erkrankungen begünstigt. So kommen etwa Typ 1 und Typ 2-Diabetes, Bluthochdruck, Herz-Kreislauf-Erkrankungen, verschiedene Krebsleiden wie etwa Darm-, Brust und Prostatakrebs, Depressionen, Multiple Sklerose, Rheumatoide Arthritis, Allergien und Infektionskrankheiten bei niedrigen Vitamin D-Spiegeln häufiger vor als bei moderaten oder hohen. Manche Wissenschaftler vermuten, dass die Antwort auf die Frage, warum im Winterhalbjahr grippale Infekte deutlich häufiger sind als im Sommerhalbjahr, vor allem auch in im Winter sinkenden Vitamin D-Spiegeln zu suchen ist. Vor der Erfindung potenter Antibiotika galten Sonnenkuren in höheren, UV-B-intensiven Lagen als durchaus wirksame Therapie gegen Tuberkulose. Thomas Manns berühmter Roman „Der Zauberberg“ spielt in einem solchen Schweizer Sonnenlicht-Sanatorium. Und es ist plausibel vorstellbar, dass es die durch Sonnenlicht nach oben getriebenen Vitamin D-Spiegel waren, die das Immunsystem befähigten, selbst eine Tuberkulose niederzuringen.

Skeptiker erinnern jedoch zu Recht daran, dass eine Assoziation noch nicht beweisend für eine Kausalität ist. Denn denkbar ist auch, dass niedrige Vitamin D-Spiegel und damit assoziierte Erkrankungen einfach eine gleiche aber noch unbekannte Ursache haben. Vielleicht ein anderer noch unbekannter sonnenlichtabhängiger Faktor. Möglicherweise sei es sogar umgekehrt und die Assoziation bestehe nur deshalb, weil bestimmte Erkrankungen mit einem erhöhten Vitamin D-Verbrauch einhergehen oder die körpereigene Vitamin D-Synthese stören und so niedrige Spiegel bedingen.

Klarheit können und werden letztendlich erst placebokontrollierte Doppelblindstudien bringen, in der eine große Zahl von Probanden mit geeignetenVitamin D-Präparaten ihren Vitamin D-Spiegel aufrüsten, während ein Kontrollkollektiv nach gleichem Modus ein wirkstofffreies Scheinpräparat einnimmt und man dann nach mehreren Jahren den Gesundheitsstatus vergleicht. Da in einer solchen Langzeitstudie sehr viele Störfaktoren berücksichtigt werden müssen (wie nicht zuletzt auch die individuell wechselnde Sonnenlichtexposition), ist fraglich,  ob wir hier in absehbarer Zeit eine verbindliche Antwort erhalten. Allerdings liefert auch die Evolutionstheorie einen wichtigen Hinweis dafür, dass höhere Vitamin D-Spiegel als sie die meisten von uns haben, für unsere Gesundheit und unser Wohlbefinden bedeutsamer sind als weite Teile der Schulmedizin bislang einräumen.

Helle Haut erleichterte das Überleben im Norden

Etablierten Lehrmeinungen zufolge wurde es Homo sapiens vor etwa 100.000 Jahren in seiner afrikanischen Wiege zu eng und er begann, sich auszubreiten. Ein Hauptstrom ging nach Norden. Dabei wurde im Verlauf der nächsten Jahrzehntausende die Haut umso heller beziehungsweise pigmentärmer, je nördlicher die Menschen vordrangen. Offensichtlich hatten Mutanten mit heller Haut in nördlichen Gefilden einen so starken selektiven Vorteil, dass sie dort in vergleichsweise kurzer Zeit die Mehrheit wurden und die ursprüngliche dunkle Hautfarbe aus ihrem regionalen Genpool verdrängten.

Diese vergleichsweise schnelle Durchsetzung der hellen Haut in nördlichen Gefilden könnte ein wichtiger evolutionstheoretischer Hinweis auf die große Bedeutung von unter natürlichen Bedingungen erreichbaren hohen Vitamin D-Spiegeln für Überleben und Gesundheit von Menschen sein. Denn je heller die Haut, desto weniger Sonnenlicht beziehungsweise UV-B-Strahlung wird für die körpereigene Vitamin D-Synthese gebraucht. Die Fähigkeit, auch unter sonnenärmeren Umweltbedingungen noch ausreichend hohe Vitamin D-Spiegel zu sichern, scheint damit für das Überleben der Menschheit wichtiger gewesen zu sein als die nachteiligen Konsequenzen, die gemeinhin einer helleren Haut zugeschrieben werden: Sie ist dünner, verletzlicher, hautkrebsanfälliger als dunkle Haut und sie altert auch schneller.

Hauttypen in Zeiten der Globalisierung

Prähistorische Wanderbewegungen waren langsam genug, um über viele Generationen den Hauttyp den Breitengraden mit ihrer unterschiedlichen Sonnenlichtintensität anzupassen. Heute ist das anders. Im Jetzeitalter überfliegen wir in Stundenschnelle viele Breitengrade. Die Nachfahren hellhäutiger Kelten und Angelsachsen, evolutionär angepasst an die Verhältnisse oft wolkenverhangener, vergleichsweise wenig sonnenintensiver britischer Inseln, bevölkern das heiße, von brennender Sonne rund um das Jahr beschienene Australien. Wenn sie sich nicht stets und lückenlos mit Sonnenschutzmitteln zukleistern, dürfte ihre Vitamin D-Versorgung bestens sein. Sie müssen sich eher vor Hautkrebs sorgen.

Schwarz- oder auch schon Nordafrikaner, die in den nördlicheren Teilen Nordamerikas oder in Mitteleuropa eine neue Heimat gefunden haben oder finden, sind dagegen noch weit stärker als wir von einem Vitamin D-Mangel bedroht. Selbst dann, wenn sie viel draußen sind. Denn ihre Haut schirmt sie besser vor UV-Bestrahlung ab als es unter hiesigen Sonnenbedingungen für den Vitamin D-Haushalt gut ist. Bei voll verschleierten Frauen, wie es im muslimischen Kulturkreis traditionell üblich ist, wird die potenzielle Vitamin D-Mangelsituation in unseren Breiten zusätzlich verschärft.

Eine Reihe von Krankheiten kommt in den USA bei Afroamerikanern signifikant häufiger oder in jüngeren Jahren vor als bei Weißen. Beispielsweise Bluthochdruck, Prostata- und Brustkrebs. Vielleicht ist das ein Ausdruck ihrer hauttypbedingt schlechteren Vitamin D-Versorgung. Dafür spräche zudem, wenn diese rassebedingten Unterschiede in der Krankheitslast in den USA von Süd nach Nord zunehmen würden.

Auf zu höheren Vitamin D-Spiegeln

Die Tatsache, dass die meisten von uns „unnatürlich“ niedrige Vitamin D-Spiegel im Blut haben, sollte auch dann eine Anhebung rechtfertigen, wenn zum gesundheitlichen Nutzen noch nicht alle Fragezeichen ausgeräumt sind. Höhere Vitamin D-Spiegel sind durch verschiedene Maßnahmen, die man selbstverständlich auch kombinieren kann, erreichbar.

Mehr Sonnenlicht in der Mittagspause

Die artgerechteste Strategie zu höheren Vitamin D-Spiegeln wäre wohl, wenn wir uns zumindest im Sommerhalbjahr wieder die meiste Zeit des Tages im Freien aufhalten würden. Leider lässt die moderne Arbeits- und Bildungswelt das nicht mehr zu. Nützt man es konsequent, reicht aber auch, sich von März bis Oktober so oft wie möglich an jedem Sonnentag in der Mittagspause je nach Hauttyp und Bräunungsgrad ein zehn bis 30minütiges Sonnenbad zu gönnen. Fängt man bereits im März oder frühen April damit an, braucht man keinen Sonnenbrand zu befürchten, zumal sich die Haut langsam an die intensiver werdende Sonne gewöhnen kann. Zahlreiche Experten sind der Ansicht, dass es bereits genügt, wenn man nur das Gesicht und die Unterarme diesem Turbosonnentanken aussetzt. Aber je mehr nackte Körperoberfläche die Sonne bescheint, umso sicherer dürften die Vitamin D-Spiegel steigen. Nackt oder in Badehose und Bikini können jüngere Menschen mitteleuropäischer Hauttypen auch in unseren Breiten an einem wolkenlosen Sommertag innerhalb zwanzig bis 30 Minuten 10. bis 20.000 Internationale Einheiten (IE) Vitamin D aufbauen. Je älter ein Mensch und je dunkler seine Haut ist, desto geringer ist bei ansonsten gleichen Voraussetzungen seine sonneninduzierte Vitamin D-Ausbeute.

Sonnenschutzmittel beim Turbosonnen tabu

Unverzichtbar für jeden Erfolg ist, dass sich keine UV-B-mindernden Barrieren zwischen Sonne und Haut befinden; also kein noch so sauber geputztes Fensterglas und kein Sonnenschutzmittel. Denn damit würde bereits ab Lichtschutzfaktor 8 die UV-B-Licht induzierte Vitamin D-Synthese in der Haut nahezu vollständig ausgebremst.

Wer beim mittäglichen Sonnenbad alles richtig macht, kann im Sommerhalbjahr durchaus auf Werte des Speicher-Vitamins D (25-OH-D3) von über 40 ng/ml kommen. Vitamin D-Überdosierungen sind durch das Sonnebaden dank körpereigener Regelmechanismen nicht zu befürchten. Dennoch sollte man sich nicht hemmungslos ungeschützt deutlich länger als die empfohlenen zehn bis 30 Minuten der prallen Sonne aussetzen. Denn während für den Vitamin D-Speicher der Zusatznutzen nach diesem Zeitlimit rapide abnimmt, drohen bei  fortgesetzter intensiver Besonnung bekannte unerwünschte Wirkungen wie Sonnenbrand, beschleunigte Hautalterung und Zunahme des Hautkrebsrisikos.

Von Oktober bis März reicht in Mitteleuropa die Kraft der Sonne zur Vitamin D-Synthese nicht mehr aus. Pro Winterhalbjahrmonat verlieren wir deshalb durchschnittlich 20 Prozent unseres im Sommer aufgefüllten Speichers. War der unzureichend bestückt, rutscht man leicht in bedenkliche bis kritische Bereiche ab, weshalb zumindest im Winter eine orale Vitamin D- Zufuhr zu überlegen ist.

Vitamin D essen

Der natürliche Vitamin D-Gehalt der meisten Nahrungsmittel ist zu gering, um einen nennenswerten Beitrag zur Vitamin D-Versorgung von Menschen zu leisten. Diese Tatsache wurde durch die neuzeitliche Stallhaltung unseres Nutzviehs noch verschärft. Denn auch der Vitamin D-Gehalt von Fleisch, Eiern und Milch hängt ab von der Sonnenlichtexposition, die die produzierenden Tiere genießen durften. Inwieweit dem Tierfutter zugesetztes Vitamin D ein würdiger Ersatz für sonneninduziertes Vitamin D ist, sei an dieser Stelle dahin gestellt.

In nennenswerter Konzentration findet sich Vitamin D vor allem in fettem Seefisch. Um den Vitamin D-Mindestbedarf weitgehend über die Nahrung zu decken, müssten aber täglich über 400 Gramm solchen Fisches verzehrt werden.

Lebertran

Eine herausragende aber vielen nicht schmeckende Ausnahme ist Lebertran, ein Öl, das aus der Leber von Dorsch, Kabeljau, kleinen Haiarten oder Schellfisch gepresst wird. Pro 100 Gramm enthält er bis zu 12.000 IE Vitamin D. Eskimos oder – wie sie selbst genannt werden wollen – Inuits haben trotz vergleichsweiser dunkler Haut und lichtdichter Bekleidung dank ihrer lebertranhaltigen Ernährung selbst im hohen Norden bessere Vitamin D-Spiegel als die meisten von uns. Mit einem Tee- bis Esslöffel Lebertran täglich könnte man auf traditionelle Weise den winterlichen Abbau unserer Vitamin D-Spiegel bremsen oder stoppen.

Ist der Geschmack des Trans ein unüberwindliches Hindernis, fürchtet man eine Überdosierung mit ebenfalls im Lebertran befindlichen Vitamin A (bei einem Löffel täglich eher unwahrscheinlich) beziehungsweise eine Schwermetallbelastung (bei Lebertran aus der Apotheke minimiert), ist man Vegetarier oder Veganer, dann sollte man über künstlich erzeugtes Vitamin D in Form eines Medikamentes oder eines Nahrungsergänzungsmittels nachdenken.

Vitamin D als Medikament oder Nahrungsergänzungsmittel

Als ausreichende und zugleich unter allen Umständen unbedenkliche Dosen rät etwa die DGE bei Säuglingen zu täglich 400 IE Vitamin D. Für Kinder älter als ein Jahr, Jugendliche und Erwachsene einschließlich Schwangere und Stillende werden bei fraglicher Sonnenlichtexposition 800 IE pro Tag empfohlen. Allerdings gibt sich die DGE bekanntlich bereits mit einem Vitamin D-Blutspiegel von 20 ng/ml zufrieden. Mediziner und Ernährungswissenschaftler, die 30, 40 oder gar 50 ng/ml als Grenzwerte anstreben, sind auch bei der Vitamin D-Substitution wesentlich großzügiger. Je nach Ausgangs- und Zielwert plädieren sie für eine Zufuhr von täglich bis zu mehreren 1000 Einheiten. Solche Dosen sollten aber sicherheitshalber immer im Einvernehmen mit einem der Vitamin D-Substitution aufgeschlossenen Arzt eingenommen werden. Denn anders als beim Sonnenlichttanken, sind bei einer oralen Zufuhr Überdosierungen nicht völlig ausgeschlossen. Dabei ist die kritische Grenze bei bestimmten Vorerkrankungen, etwa Nierenfunktionsstörungen, niedriger als üblich anzusetzen.

Sonnenlicht vor Medikation

Selbst wenn nichts gegen eine orale Vitamin D-Zufuhr spricht, sollte sie aus evolutionstheoretischer Sicht eine Sonnenexposition bestenfalls ergänzen, aber nie ersetzen. Denn es ist durchaus vorstellbar, dass bei der sonneninduzierten Vitamin D-Synthese bislang unbekannte aber evolutionär bewährte Begleitprodukte oder -reaktionen anfallen, in deren Genuss man bei der oralen Gabe von Vitamin D nicht kommt.

Raus sollten Sie ohnehin so oft es geht. Denn wie bereits erwähnt, gibt es Hinweise, dass helles, ungefiltertes Tageslicht auch unabhängig vom Vitamin D-Stoffwechsel für unsere Gesundheit und unser Wohlbefinden von erheblicher Bedeutung ist. Helles Tageslicht unter freiem Himmel eicht etwa unsere innere Uhr, macht uns am Morgen richtig wach, hebt über den lichtinduzierten Serotonin- und Dopaminstoffwechsel die Stimmung und reduziert – womöglich ebenfalls dopaminabhängig – in der Wachstumsphase vielleicht sogar das Risiko, kurzsichtig zu werden. Speziell dazu mehr in Kapitel VI.

Abgesehen von der mittäglichen kurzen Turbobestrahlung im Interesse einer guten Vitamin D-Versorgung, ist für den Rest des Tages durchaus Sonnenschutz angeraten. Schattenspendende luftige Bekleidung und eine leichte Kopfbedeckung leisten dabei mindestens ebenso gute Dienste wie kosmetische Sonnenschutzmittel mit hohem Lichtschutzfaktor.

Ein Schlusswort zum Hautkrebs

Erkaufen wir uns höhere Vitamin D-Spiegel und ein wieder etwas unbeschwerteres Verhältnis zur Sonne mit einem zunehmenden Hautkrebsrisiko? Eher nicht. Oder zumindest nicht beim gefährlichen schwarzen Hautkrebs, dem malignen Melanom. Das maligne Melanom ist ein äußerst bösartiger Hautkrebs, der hoch metastasierungsfreudig ist und in fortgeschrittenen Stadien eine schlechte Prognose hat. Umso wichtiger ist eine regelmäßige Vorsorgeuntersuchung auf Hautkrebs beim Haus- oder Hautarzt. Denn frühzeitig erkannt, sind beim malignen Melanom die Heilungschancen hoch.

Das maligne Melanom hat in den letzten 30 bis 40 Jahren stark zugenommen. Einige Untersuchungen sprechen von einer Verdreifachung der Fallzahlen seit Ende der siebziger Jahre des letzten Jahrhunderts. Dies und die Vorstellung, dass diese Zunahme dem veränderten Freizeitverhalten mit häufigeren Sonnenurlauben geschuldet ist, hat in den letzten Jahren und Jahrzehnten vor allem von dermatologischer Seite eine regelrechte Sonnenfurcht geschürt.

Dachdecker geben Entwarnung

Überraschend waren dann aber arbeitsmedizinische Untersuchungen, wonach Dachdecker signifikant seltener als andere Berufsgruppen oder die Durchschnittsbevölkerung ein malignes Melanom entwickeln. Und das, obwohl sie das gesamte Sommerhalbjahr bei schönem Wetter oft den ganzen Tag mit freiem Oberkörper auf Dächern in der prallen Sonne arbeiten. Des Rätsels Lösung: Es ist nicht die summierte Sonnenbestrahlung sondern eine hohe Frequenz an Sonnenbränden, die das maligne Melanom befeuert. Und diesbezüglich stehen Dachdecker eher günstig weil eigentlich ziemlich artgerecht-ursprünglich da. Indem sie ihr Hemd meist schon an warmen Apriltagen ausziehen, hat ihre Haut genügend Zeit, sich langsam der zum Sommer hin immer intensiver werdenden Sonne anzupassen. Deshalb bekommen sie keinen Sonnebrand und haben gleichzeitig beste Voraussetzungen für besonders hohe Vitamin D-Spiegel einschließlich potenziell günstiger Konsequenzen für das Immunsystem.

Der Großteil der übrigen Bevölkerung lebt dagegen die meiste Zeit in sonnen- bzw. tageslichtarmen Verhältnissen. An manchen Wochenenden und im Urlaub will man dann diesem Defizit entrinnen, setzt seine blasse Haut zu lang der prallen Sonne aus, nimmt so mehrmals im Jahr einen heftigen Sonnenbrand in Kauf und treibt genau damit das Melanomrisiko nach oben.

Beim weißen Hautkrebs ist tatsächlich die summierte Sonnenbelastung der Haut mitverantwortlich für seine Häufigkeit. Entsprechend sind Dachdecker hiervon überdurchschnittlich betroffen. Aber erstens ist der weiße Hautkrebs weit weniger aggressiv als der schwarze und selbst in fortgeschritteneren Stadien meist gut in den Griff zu bekommen. Zweitens ist die kurze aber regelmäßige mittägliche Sonnenbestrahlung, wie sie hier für eine gute Vitamin D-Versorgung empfohlen wurde, nicht nur zu kurz, um einen Sonnenbrand zu verantworten sondern auch zu kurz, um das Risiko für einen weißen Hautkrebs messbar zu steigern.

Nächtliche Lichtverschmutzungen

Der Wechsel von helllichtem Tag zu stockdunkler Nacht, der unsere Evolution über Jahrmillionen geprägt hat, ist in modernen Welten mehr oder weniger abgeflacht. Während sich der Tagesablauf noch vor wenigen Generationen streng nach dem Lauf der Sonne richtete, verlängern wir heute mit Kunstlicht jeden Tag um einige Stunden. Oft wird bis spät in die Nacht auf blaulichtstarke LED-Bildschirme von Handys, IPads und PCs gestarrt. Und selbst in der verkürzten Ruhezeit sind viele von uns nicht mehr in natürliche Dunkelheit gehüllt. Grelle Straßenleuchten, Lichtreklamen, Ampelanlagen und Autoscheinwerfer erhellen so manches Schlafzimmer weit mehr als es gut für uns ist. Wie sehr Licht nicht nur das Einschlafen behindert sondern auch den Schlaf weniger erholsam macht, kennt nahezu jeder, der schon mal aus Versehen bei Licht eingeschlafen ist. Wacht man dann nach ein paar Stunden auf, fühlt man sich unausgeschlafen, verkatert, wie nach Schichtarbeit oder in einem Jetlag.

Obwohl die Wissenschaft zunehmend Daten liefert, dass nicht nur der tägliche Lichtmangel sondern auch die nächtliche Überbeleuchtung unser Wohlbefinden und unsere Gesundheit stört, wird gegen die nächtliche Lichtverschmutzung bislang wenig unternommen. Im Gegenteil: Untersuchungen zufolge wächst sie in den Industrienationen jährlich um etwa sechs Prozent an. Aus Energiespargründen werden zwar herkömmliche Glühbirnen durch LEDs ersetzt. Doch sind die aufgrund eines höheren Blaulichtanteils einem erholsamen Schlaf möglicherweise sogar noch abträglicher. Denn was die nächtliche Lichtverschmutzung nach bisherigen Erkenntnissen so kritikwürdig macht, ist, dass sie unsere Zirbeldrüse irritiert. Und dabei scheint Blaulicht eine besonders unrühmliche Rolle zu spielen.

Die Zirbeldrüse – klein aber oho!

Die Zirbeldrüse ist ein etwa erbsengroßes Organ im Zwischenhirn. Sie ist das wohl wichtigste Steuerelement unserer inneren Uhr und sie produziert bei Dunkelheit Melatonin. Melatonin ist ein Hormon, das uns müde macht, entspannt und erholsam schlafen lässt. Helles Tageslicht beendet die Melatoninproduktion. Die Blutspiegel des Schlafhormons sinken und der Wachheitsgrad steigt an. Dieses Wechselspiel funktioniert am besten unter Verhältnissen, wie wir sie die meiste Zeit unserer Stammesgeschichte hatten. Das ist mit ein Grund, warum man etwa in einem naturnahen Wanderurlaub so gut wie nie unter Tagesmüdigkeit und Einschlafstörungen leidet. Leben wir am Tag zu dunkel und in der Nacht zu hell, begünstigt das das Gegenteil.

Melatonin ergänzen?

Melatonin gilt jedoch nicht nur über die Schlafregulation als gesundheitsrelevant. Als effektives Antioxidans soll es die Zellalterung bremsen und sogar das Risiko für schwere Krankheiten wie Krebs oder Arterienverkalkung mindern. Ob dem tatsächlich so ist, gilt bislang als unbelegt. Und inwieweit die Zufuhr von Melatonin als Nahrungsergänzungsmittel so segensreich und nebenwirkungsarm ist wie sie besonders in den USA beworben wird, ist auch noch dahin gestellt. Auf der sichereren Seite stehen wohl Bemühungen, durch ein paar Verhaltensmaßnahmen den körpereigenen Melatoninstoffwechsel wieder ein bisschen mehr auf eine artgerechte Linie zu bringen.

Lichtkorrekturen

Und das kann nur heißen, am Tag wieder möglichst viel Licht (siehe oben) und des Nachts möglichst wenig Licht ins Leben zu lassen. Leider wird man bei verantwortlichen Stellen noch kein offenes Ohr gegen nächtliche städtische Lichtverschmutzungen finden. Belange der Verkehrssicherheit, die Furcht vor finsteren Ecken und selbst Begehrlichkeiten der Werbeindustrie zählen bislang stärker als das natürliche Bedürfnis nach einer dunklen Nacht, in der einem höchstens – wie seit Millionen von Jahren – die Sterne und der Mond leuchten. Aber zumindest in Ihren eigenen vier Wänden können Sie schon vieles besser machen:

  • Verbannen Sie sämtliche Lichtquellen aus Ihrem Schlafzimmer (oder decken Sie sie gut ab); also auch kein Notlicht, kein leuchtender Wecker, keine Standby-Diode elektronischer Geräte. Bei Rauchmeldern gibt es inzwischen Modelle ohne störend blinkende Bereitschaftsanzeige.
  • Lassen sie mindestens eine halbe Stunde vor dem Zubettgehen die Finger beziehungsweise die Augen von PC-Monitoren, Tabletts, E-Books und ähnlichem.
  • Wenn Sie vor dem Einschlafen noch lesen wollen, greifen Sie zu einem konventionellen Buch. Schrauben Sie zumindest in die Leselampe des Schlafzimmers eine gute alte Glühbirne und keinesfalls eine Energiesparalternative mit hohem Blaulichtanteil.
  • Scheint Kunstlicht von draußen in Ihr Schlafzimmer, sorgen Sie für lichtdichte Vorhänge oder Jalousien. Nachteil: Ihr schlafender Körper bekommt die allmähliche Morgendämmerung nicht mit, die unter natürlichen Verhältnissen ihren Schlafzyklus abrundet und sie unbewusst sanft auf den kommenden Tag einstimmt. Stattdessen werden Sie vom Wecker womöglich abrupt aus Morpheus Armen gerissen, was den Erholungswert des Schlafes ebenfalls etwas zu mindern vermag. Aber wenn Sie nicht weit aufs Land hinaus ziehen möchten, ist das als kleineres Übel hinzunehmen.

Zusammenfassende Lichtpunkte

  • Unsere Evolution hat uns zu tagaktiven Lebewesen geformt, die das volle Tageslichtspektrum vertragen und auch brauchen.
  • Bis zur industriellen Revolution wurden fast alle Menschen dieser Vorgabe gerecht, zumal sie ihre Tageszeit hauptsächlich unter freiem Himmel verbrachten.
  • Der moderne Zivilisationsmensch lebt dagegen die meiste Zeit seines Tages in geschlossenen Räumen und damit weit von natürlichen Lichtverhältnissen entfernt.
  • Eine bedeutsame Konsequenz dieser mehr oder weniger freiwilligen Dunkelhaft sind bedenklich niedrige Vitamin D-Spiegel. Denn der Hauptanteil unseres Vitamins D wird in der von ungefiltertem Sonnenlicht beschienenen Haut gebildet.
  • Unbestritten gilt, dass zahlreiche Erkrankungen und Befindlichkeitsstörungen wie Rachitis, Osteoporose, Bluthochdruck, Diabetes, Antriebsschwäche, Allergien, verschiedene sonstige Immunstörungen oder sogar einige Krebsarten bei niedrigen Vitamin D-Spiegeln häufiger vorkommen als bei hohen.
  • Die Frage, ob dieser Zusammenhang kausal ist und inwieweit eine gezielte Anhebung des Vitamin D-Spiegels tatsächlich das Gesundheitsprofil verbessert, ist für die meisten dieser Krankheiten noch nicht zuverlässig geklärt.
  • Strittig ist auch, wie hoch der Vitamin D-Spiegel im Blut sein soll. Während an tropischen Naturvölkern orientierte Wissenschaftler Werte zwischen 55 und 90 ng/ml als optimal erachten, gibt sich die schulmedizinische Mehrheit und auch die Deutsche Gesellschaft für Ernährung (DGE) mit einem Mindestwert von 20 ng/ml zufrieden.
  • Da die große Mehrheit der Deutschen selbst diesen Wert –zumindest im Winter – unterschreitet, besteht Konsens, etwas für höhere Vitamin D-Spiegel zu tun.
  • Vorsicht: In manchen Veröffentlichungen werden die Vitamin D-Blutwerte in Nanomol pro Liter (nmol/l) angegeben. Um einen solchen Wert in Nanogramm pro Milliliter (ng/ml) umzurechnen, müssen Sie ihn durch 2,5 teilen. Aus 50 nmol/l werden somit 20 ng/ml.
  • Artgerechteste Maßnahme, den Vitamin D-Spiegel anzuheben, ist, wieder öfter die Sonne auf die Haut scheinen zu lassen.
  • Um die körpereigene Vitamin D-Produktion rationell auf Touren zu bringen, reicht es bereits, sich von Ende März bis Anfang Oktober in der Mittagspause je nach Hauttyp und Bräunungsgrad für zehn bis 30 Minuten – so oft sie scheint – in die pralle Sonne zu setzen. Geeignete Orte sind etwa ein Balkon oder auch ein Platz vor dem geöffneten (!) Fenster. Je mehr sonnenschutzmittelfreie Haut Sie entblößen können, umso besser. Aber notfalls genügen Gesicht und freigemachte Unterarme.
  • Wenn Sie bereits Ende März mit dieser Maßnahme anfangen, gewöhnen Sie sich gut an die intensiver werdende Sonne. Sie brauchen dann bei dieser intensiven Kurzzeitbescheinung weder einen Sonnenbrand noch eine Zunahme des Hautkrebsrisikos zu befürchten.
  • Gibt es in Ihrem Alltag selbst diese kleinen Gelegenheiten für ausreichend Sonne nicht, sollten Sie eine orale Vitamin D- Zufuhr erwägen. Im Winterhalbjahr könnte eine solche Option sogar auch für sommerliche Sonnenanbeter nützlich sein.
  • Die Deutsche Gesellschaft für Ernährung empfiehlt zur oralen Gabe von Vitamin D im ersten Lebensjahr täglich 400 IE (internationale Einheiten), für alle anderen Menschen im Falle einer unzureichenden bzw. fraglichen Sonnenexposition täglich 800 IE.
  • Institutionen und Experten, die deutlich höhere Ziel-Blutspiegel als 20 ng/ml 25-OH D3 propagieren, empfehlen tägliche Vitamin D-Einnahmen von 5000 IE und mehr. Um ganz auf der sicheren Seite zu stehen, sollten Sie solche Dosen mit einem Arzt Ihres Vertrauens abstimmen.
  • Dosisangaben in Mikrogramm (µg) müssen Sie mit 40 multiplizieren, um sie in IE umzurechnen. Also 20 µg Vit D = 800 IE Vit D.
  • Viele Anwender solcher Höherdosierungen berichten eine rasche deutliche Verbesserung ihrer subjektiven Befindlichkeit: Z.B. mehr Antrieb, weniger Infekte, besseren Schlaf, höhere psychische Belastbarkeit, Rückgang allergischer Beschwerden usw. Gibt ihr Arzt grünes Licht für einen Selbstversuch, spricht wenig dagegen, es mal auszuprobieren.
  • Helles Tageslicht wie es nur unter freiem Himmel gewährleistet ist, hat wahrscheinlich noch weit mehr zu bieten als höhere Vitamin D-Spiegel im Blut. Verbringen Sie deshalb soviel Tagesfreizeit wie möglich im Freien.
  • Wenn Sie am Tag im Freien Sport treiben, schlagen Sie drei Fliegen mit einer Klappe: Bewegung, Licht und Luft, die im Freien ebenfalls grundsätzlich besser ist als in geschlossenen Räumen.
  • Motivieren Sie deshalb vor allem auch Ihre Kinder oder Enkel zu Sport und Spiel unter freiem Himmel.
  • Während wir am Tag viel zu wenig Licht abbekommen, ist es des Nachts eher zuviel.
  • Die allnächtliche Lichtverschmutzung stört unsere innere Uhr, unseren Schlaf und wird ebenfalls zunehmend als Gesundheitsrisiko erkannt.
  • Versuchen Sie, zumindest Ihren Schlafbereich durch lichtdichte Jalousien oder Vorhänge von nächtlichen äußeren Luftverschmutzungen abzuschirmen.
  • Auch schwaches Kunstlicht kann den Schlaf stören. Tragen Sie Sorge, dass von Ihrem Bett aus Lichtquellen weder direkt noch indirekt wahrnehmbar sind.
  • Damit die Zirbeldrüse möglichst ungestört das Schlafhormon Melatonin produzieren kann, sollten Sie mindestens eine halbe bis eine Stunde vor dem Schlafengehen die Augen von blaulichtintensiven LED-Monitoren lassen.

Kapitel V: Ohne Hygienefimmel durchs Neandertal

Auch was Hausputz, Körperpflege und den überwiegend feindliche Umgang mit Mikroben und Viren betrifft, sprengt der Mensch seine evolutionären Vorgaben. Wir bemühen uns mit potenziell für uns ebenfalls giftigen Reinigungsmitteln um keimfreie Fußböden, die niemand braucht. Die Hinweise verdichten sich, dass etwa für die erschreckende Zunahme von Allergien eher ein Zuwenig als ein Zuviel an Mikroben eine große Rolle spielt.

Motiviert durch eigene Profitinteressen, hat es die Kosmetikindustrie geschafft, dass wir uns täglich mindestens einmal eingeseift unter die Dusche stellen. Evolutionsbiologen können davor nur abraten und Hautärzte schließen sich diesem Einspruch zunehmend an. Zuviel Körperhygiene überstrapaziert die Haut, macht spröde Haare noch spröder und fette Haare fettiger.

Während Bakterien und Pilze in den letzten Jahrzehnten zunehmend differenzierter gesehen werden und viele Spezies als harmlos oder sogar nützlich für unsere Gesundheit rehabilitiert wurden, ist der Blick auf den Menschen infizierende Viren nach wie vor ein einseitig feindlicher. Auch das muss aber so nicht mehr stehen gelassen werden. Denn selbst im vordergründig echten Feind steckt infolge einer viele tausende Jahre langen aufeinander abgestimmten Koevolution von Wirt und Virus oft mehr Freund, als breite Teile der modernen Schulmedizin bislang anerkennen.

Wo glauben Sie, finden sich mehr Keime: Auf Ihrer Toilettenbrille oder in Ihrem Kühlschrank? Was lehrt uns die unterdurchschnittliche Allergiehäufigkeit von Bauernkindern? Warum ist mehr Gelassenheit gefragt, wenn kleine Kinder vieles in den Mund stecken? Was könnte sogar an humanpathogenen Viren gut sein? Weshalb sind wie Antibiotika deshalb womöglich auch manche Impfungen ein zweischneidiges Schwert? Und warum sollte man dennoch selbst als Impfkritiker – gerade wenn man evolutionstheoretisch argumentiert – seinen Nachwuchs dann womöglich besser doch gegen Kinderkrankheiten impfen, bevor die Kindheit vorbei ist? Nach Lektüre von Kapitel V kennen Sie die Antworten auf diese Fragen und werden hoffentlich ein etwas entspannteres Verhältnis zu den unsichtbaren Mitgeschöpfen, die uns unweigerlich in kaum vorstellbarer Zahl und Artenvielfalt seit Urzeiten umgeben, haben.

Die Hygienehypothese

Mitte des 19. bis Anfang des 20. Jahrhunderts setzte sich die Erkenntnis durch, wonach zahlreiche Erkrankungen von mit dem bloßen Auge nicht sichtbaren Erregern ausgehen und viele dieser Erkrankungen durch mehr Sauberkeit, strikte Trennung von Trink- und Abwasser, unterschiedlichste Desinfektionsmaßnahmen sowie die Isolierung bereits Erkrankter verhindert werden können. Teile dieses Wissens waren bereits in der Antike vorhanden, gingen dann aber im Laufe der Zeit wieder verloren. Die Pioniere der modernen Infektiologie taten sich anfangs schwer, ihre wieder neuen Vorstellungen und Erkenntnisse gegen den Widerstand der damals etablierten Medizin überhaupt zur Diskussion zu stellen. So wurde der 1818 in Budapest geborene Wiener Arzt Ignaz Semmelweis, dessen geburtshelferischen Hygieneempfehlungen zahllose werdende Mütter vor dem gefürchteten Kindbettfieber bewahrten, von vielen Kollegen seiner Zeit nicht ernst genommen bis angefeindet. Er starb unter ungeklärten Umständen mit 47 Jahren – womöglich zwangspsychiatrisiert von einer missgünstigen Kollegenschaft – in einem Wiener Irrenhaus.

Wie so oft in der Geschichte, schlug dann aber das Pendel ins Gegenteil um. Obwohl tatsächlich nur ein kleiner Teil aller Mikroben und Viren als Erreger menschlicher Krankheiten in Frage kommt, wurden alle Mitglieder dieser Gruppen in Sippenhaft genommen. Man konnte und wollte nichts Gutes in ihnen erkennen. Je mehr von ihnen mit Desinfektionsmitteln, Antibiotika und Impfungen im Keim erstickt werden können, umso besser, dachte man.

Es dauerte fast hundert Jahre, bis ein erneutes Umdenken begann. Während zunächst nur Vertreter unserer Darm- (s. a. „Unsere Mitesser“ in Kapitel II) und Hautflora rehabilitiert worden waren, eröffnete der britische Epidemiologe Professor David P. Strachan mit einer Veröffentlichung im Jahr 1989 ein neues, ökologisch und evolutionstheoretisch angehauchtes Kapitel der Medizingeschichte: Die Hygienehypothese befeuerte die Suche nach dem Guten im Schlechten.

Weniger Keime und Parasiten – mehr Allergien und Autoimmunerkrankungen

Dokumentiert ab 1960, haben seit dieser Zeit in der westlichen Welt allergische Erkrankungen wie Heuschnupfen, allergisches Asthma und Neurodermitis sowie Autoimmunerkrankungen wie multiple Sklerose, Morbus Crohn oder Typ 1-Diabetes stark zugenommen. In der Ursachenfahndung haben die Forscher übliche Defizite des modernen Lebens wie Über- und Fehlernährung, Luftverschmutzung, Bewegungs- oder neuerdings auch Vitamin D-Mangel im Visier. Strachan brachte aber einen neuen weiteren Verdacht ins Spiel. Möglicherweise haben wir uns die durch Hygiene und Medikamente errungene Abnahme von Infektionskrankheiten und Parasitenbefall irgendwie mit der Zunahme von Allergien und Autoimmunerkrankungen erkauft. In einer großen Bevölkerungsstudie fand Strachan, dass Kinder mit mehreren älteren Geschwistern deutlich seltener an Heuschnupfen erkrankten als Kinder ohne ältere Geschwister. Strachans Schlussfolgerung: Kinder mit älteren Geschwistern würden über diese schon eher im Leben mit unterschiedlichsten Atemwegskeimen konfrontiert als Kinder ohne Geschwister, was möglicherweise das Immunsystem konstruktiv moduliere. Wenngleich im weiteren Verlauf nicht nur stützende sondern auch widersprechende Arbeiten zu Strachans Interpretation erschienen, war der Blick der Forscher in eine neue Dimension gelenkt: Etwas auf den ersten Blick Schlechtes (hier z.B. die frühe Konfrontation mit Atemwegskeimen) könnte durchaus eine positive Konsequenz haben.

Bauernhöfe mit Tierhaltung – In die Moderne gerettete urtümliche Biotope

Auf der Suche nach weiteren biographischen Besonderheiten, die Kinder mit Allergien von Kindern ohne Allergien unterschieden, wurden verschiedene Forschergruppen zum Teil unabhängig voneinander auf ein bemerkenswertes Phänomen aufmerksam. Eine besonders gute Chance, allergiefrei aufzuwachsen und zu bleiben, scheinen Kinder zu haben, die auf einem Bauernhof mit Tierhaltung zur Welt kommen und dort auch ihre ersten Lebensjahre verbringen. Gestützt durch nachfolgende Tier- und Laborexperimente lautet die aktualisierte Hygienehypothese vereinfacht formuliert in etwa folgendermaßen:

Um regelrecht zu funktionieren, also auch um korrekt und effektiv zwischen zu Bekämpfendem und zu Tolerierendem zu unterscheiden, ist es für das Immunsystem förderlich, in einer frühen Entwicklungsphase, am besten bereits im Mutterleib, mit einer ausreichend breiten Facette von Keimen – darunter auch potenziellen Krankheitserregern – und natürlichen potenziellen Allergenen konfrontiert zu werden. Sind diese Stimuli aufgrund einer modern-sterilen Umwelt, die vergleichsweise arm an Keimen und natürlichen potenziellen Allergenen ist, zu schwach beziehungsweise zu facettenarm, begünstigt das früher oder später eine Fehlprägung des Immunsystems. Es läuft Gefahr, sich gegen körpereigene Strukturen zu richtet (Autoimmunkrankheiten) und/oder den Betroffenen mit sinnlosen Abwehrkämpfen gegen harmlose Allergene zu quälen (Allergien).

Auch wenn inzwischen immer mehr für die Hygienehypothese spricht und auch sogar bereits davon abgeleitete Präventionsstudien mit medikamentösen Keimbestandteilcocktails („Schmutzimpfungen“) angelaufen sind, ist sie noch nicht bewiesen. Sonst wäre sie ja auch keine Hypothese mehr. Aber sie passt wunderbar in eine evolutionstheoretische Sicht der Dinge. Denn der Mensch hat sich nun mal nicht in einer sterilen Umwelt entwickelt. Wir waren und sind eingebettet in ein ökologisches Netzwerk, zu dem eben auch die nicht sichtbaren Lebenswelten gehören. Dieses Netzwerk ist heute in den Industrienationen besonders auf der mikrobiellen und parasitären Ebene im Vergleich zu früher deutlich ausgedünnt, was entsprechend der Hygienehypothese nicht nur positiv gesehen werden darf. Das Leben und Aufwachsen auf einem Bauernhof scheint nicht zuletzt aufgrund seiner vielfältigeren Keimkonfrontation näher an den Umständen, auf die wir seit Urzeiten geeicht sind.

Wo Sigmund Freud irrte

Etwa ab dem vierten Lebensmonat bis etwa zur Mitte des zweiten Lebensjahres stecken Babys und Kleinkinder alles was sie greifen können zum Schrecken ihrer Eltern in den Mund. Der Begründer der Psychoanalyse Sigmund Freud bezeichnete diesen Lebensabschnitt deshalb auch als orale Phase. Der sexuelle Kontext, den Freud dem namengebenden Verhalten zuschrieb, dürfte, wie viele seiner Thesen, eher der Phantasie des Meisters als der Realität entsprungen sein.

Was man dagegen mit Sicherheit behaupten darf, ist, dass sich das begeisterte Belecken, Beknabbern und fragmentale Verschlucken von allem, was die Umwelt erreichbar zu bieten hat, evolutionär nie hätte durchsetzen können, wenn es für den Nachwuchs von Nachteil gewesen wäre. Die Tatsache, dass alle Babys und Kleinkinder dieses Verhalten zeigen, spricht dafür, dass ihm ein Überlebensvorteil innewohnen muss, der über das Schulen von Geschmack- und Tastsinn hinausgeht. Wahrscheinlich dient die orale Phase zum einen der Nachrüstung der kindlichen Darmflora (siehe „Unsere Mitesser“, Kapitel II), der geschluckte und die Magenpassage überlebende nützliche Keime hinzugefügt werden. Zum anderen könnte das die orale Phase kennzeichnende Verhalten gewissermaßen als natürliche Schluckimpfung das junge Immunsystem schulen (s. u.).

Babys und Kleinkindern eine möglichst sterile Umwelt zu bieten und ihnen in panischer Sorge alles unhygienisch Anmutende zu entreißen, dürfte also mehr schaden als es nützt. Vieles was die Natur an Ungiftigem zu bieten hat und unter artüblich-ursprünglichen Lebensumständen von Babys und Kleinkindern erreicht werden kann, darf belutscht werden. Zum Beispiel ein Stück unbehandeltes Holz, ein Kieselstein, der groß genug ist, um nicht versehentlich in die Atemwege zu gelangen, Sand, Erde und vieles mehr. Selbst wenn das Kind eine Ameise, einen Käfer oder Wurm in den Mund nimmt, mag das schlecht für das erwischte Tier sein, für den jungen Menschen jedoch meist eher nicht. Auch eigene Körperausscheidungen, die kleine Kinder bei Gelegenheit gern befingern und dann Spuren davon zwangsläufig zum Mund führen, wird inzwischen ein immunstimulierendes Potenzial zuerkannt.

Was dagegen nie und nimmer in den kleinen Mund gehört, sind Sachen, auf die unsere Vorfahren nicht aufpassen mussten weil es sie in früheren Zeiten noch gar nicht gab und mit denen wir uns deshalb evolutionär in keinster Weise arrangiert haben. In ihrem natürlichen Bestreben, alles an und in den Mund zu führen, woran sie gelangen können, unterscheiden kleine Kinder nicht zwischen einem Stein und einer Knopfbatterie, einem natürlichen Stück Holz mit Rinde und einem Klötzchen, das mit einem giftigen Holzschutzmittel gestrichen ist, einem hochwertigen Schnuller und einem mit hormonähnlichen Weichmachern oder anderen gesundheitsschädlichen Chemikalien durchsetzten Plastikteil, zwischen einem Grashalm oder einer Fichtenadel und einer Nähnadel. Als Eltern und Aufsichtspersonen müssen wir unsere Kinder also weniger vor natürlichem als vielmehr vor künstlich-neuzeitlichem Dreck abschirmen.

Natürliche Schluckimpfung

Die Schleimhaut des Dünndarms ist gespickt mit einer großen Zahl von Immunsensoren. Alles Geschluckte wird von diesen Immunsensoren analysiert und zensiert. Was abwehrwürdig erscheint, regt unter anderem die Bildung von im Schleim der Schleimhaut patrouillierenden so genannte sekretorischen Antikörpern an, die als erste spezifische Abwehrriege des Immunsystems unerwünschte Eindringlinge abfangen und unschädlich machen sollen. Da alle Schleimhäute des Körpers über das schleimhautassoziierte lymphatische Gewebe immunologisch miteinander vernetzt sind, finden sich durch Geschlucktes induzierte Antikörper nicht nur im Schleim der Dünndarmschleimhaut, sondern sie patrouillieren dann auch in allen andere Schleimhautregionen und Sekreten des Körpers wie etwa im Speichel. Man geht deshalb davon aus, dass beispielsweise geschluckte Atemwegsinfekterreger (bzw. immunisierende Bestandteilen davon) die Abwehr gegen Atemwegserkrankungen und das Schlucken von Harnwegsinfekterregern (bzw. Bestandteilen davon) die Abwehr von Harnwegsinfekten verbessern können. Diesen unterstellten natürlichen Mechanismus versucht man etwa beim Einsatz vorbeugend-therapeutischer Bakterienlysate gegen wiederkehrende Harnwegsinfekte (z.B. Uro-Vaxom®) oder gegen ständig wiederkehrende Atemwegsinfekte (z.B. Broncho-Vaxom®) gezielt zu kopieren.

Die meisten Hals-Nasen-Ohrenärzte sind übrigens inzwischen überzeugt davon, dass bei Schupfen das Hochziehen des Nasenschleims besser als Schnäuzen ist. Dies hauptsächlich deshalb, weil beim Schnäuzen eher als beim Schniefen infektiöser Nasenschleim in die Nasennebenhöhlen gepresst wird. Zum harmlosen Schnupfen gesellt sich dann leichter eine gefährlichere Nasennebenhöhlenentzündung. Möglicherweise begünstigt das Schniefen aber auch den soeben beschriebenen von den Dünndarmsensoren vermittelten Immunmechanismus. Denn der hochgezogene erregerhaltige Schleim fließt über den Rachen in den Verdauungstrakt und trifft dort auf den dichten Teppich an Immunsensoren. Kleine Kinder mit Schnupfen machen also zunächst instinktiv alles richtig, bevor sie von ihren Eltern zum falschen Schnäuzen erzogen werden.

Praktische Konsequenzen aus der Hygienehypothese

Die Hygienehypothese plädiert für ein entspanntes Verhältnis zu unserer mikrobiellen Umwelt. Sauberkeit ist Ordnung, aber Sterilität ist zuviel des Guten. Wären wir wirklich so empfindlich gegen allgegenwärtige Keime wie es uns die Putzmittelindustrie weiß machen will, wären wir wohl schon seit langem ausgestorben. Im Gegenteil: Offensichtlich braucht unser Immunsystem sogar die ständige Auseinadersetzung mit unterschiedlichen Keimen um effektiv und fit zu bleiben. Desinfektionsmittel mögen auch außerhalb medizinischer Einrichtungen in Ausnahmefällen eine Berechtigung haben, etwa wenn in einer Familie gerade ein Magen-Darm-Virus grassiert oder wenn das Immunsystem eines Familienmitgliedes infolge einer Chemotherapie dramatisch geschwächt ist. Aber im Normalfall schaden sie oft mehr als sie nützen. Auch an sie selbst ist unsere Biologie weit weniger angepasst als an die meisten Keime, die zu beseitigen sie gedacht sind.

Wie irrational unsere Furcht vor Keimen ist, zeigt auch die Tatsache, dass die größte Keimdichte in durchschnittlichen Haushalten dort ist, wo sie die wenigsten vermuten. Mikrobiell kontaminierte Spitzenreiter sind Kühlschränke, Blumentöpfe, Duschköpfe sowie zu selten gewechselte Putzlappen und -schwämme. Dagegen finden auf glatten, trockenen WC-Sitzen Mikroben eher ungünstige Lebensbedingungen vor. Während sich aber nach Kontakt mit einer Klobrille die meisten die Hände waschen, tut das nach einem Griff in den Kühlschrank kaum jemand. Und trotzdem passiert in der Regel nichts.

Krabbelgruppen auf den Bauernhof?

Sollte das offensichtlich vor Allergien und Autoimmunkrankheiten schützende Biotop „Bauernhof“ nicht nur Bauernkindern sondern möglichst vielen Kindern zu Gute kommen? Also mit der städtischen Krabbelgruppe immer wieder mal in den Kuhstall? Auch wenn die Idee nahe liegend erscheint, ist sie noch nicht überprüft. Professor Erika von Mutius, Kinderärztin, Allergologin und eine der wohl renommiertesten deutschsprachigen Expertinnen zu Fragen der Hygienehypothese, gibt zu bedenken, dass es möglicherweise bäuerlicher Tradition bedarf, um so richtig in den Genuss der dort herrschenden Vorteile zu kommen. Vielleicht muss man schon früh im Mutterleib eine gewisse Gewöhnung an die Keimflut der Bauernhöfe erfahren um einen Nutzen daraus zu ziehen, während bei Kindern, die erstmals zu einem späteren Zeitpunkt und dann auch nur sporadisch einer entsprechenden Exposition ausgesetzt sind, die Nachteile den Nutzen möglicherweise sogar überwiegen. Um hier verbindliche Antworten zu geben, sei noch viel Forschungsarbeit zu leisten.

Minifarm im Kinderzimmer oder auf dem Balkon?

Ähnlich verhält es sich bezüglich Vorstellungen, bäuerliche Tierhaltungsverhältnisse mit zwei Meerschweinchen oder Zwergkaninchen im Kinderzimmer oder auf dem Balkon der städtischen Wohnung zu imitieren. Auch dazu fehlen Studien, weshalb bislang kein Experte öffentlich zu raten wagt, eine Schwangerschaft oder Geburt zum Anlass zu nehmen, sich aus Gründen der Allergieprävention Haustiere anzuschaffen. Aber sind Haustiere bereits da, können und sollten sie – zumindest aus allergologischer Sicht – auch dann bleiben, wenn sich Nachwuchs ankündigt. Diese inzwischen mehrheitliche Expertenmeinung korrigiert frühere, gegenteilige Empfehlungen, als man fälschlicherweise noch glaubte, Tiere selbst über emotionale Widerstände hinweg im Interesse der Allergie- und Infektionsprävention von Schwangeren und Babys möglichst fernhalten zu müssen. Dabei wurden in der neuen Risiko-Nutzen-Analyse sogar gelegentliche mehr oder weniger unappetitliche Eventualitäten der oralen Phase mit bedacht. Regelmäßig entwurmen sollte man im Haus lebenden Katzen und Hunde aber dann vielleicht schon.

Artungerechte Körperpflege

Laut einer von der Apotheken Umschau in Auftrag gegebenen Umfrage aus dem Jahr 2010, duschten damals von den knapp 2000 stichprobenartig befragten erwachsenen Deutschen 85 Prozent mindestens einmal täglich. Fünf Jahre vorher hatten sich in einer ähnlichen Umfrage nur 58 Prozent als ebenso reinlich offenbart. Der Trend geht hier also nach oben und zumindest an heißen Sommertagen wird vielleicht schon bald das zweimal tägliche Duschen zur Norm. Offensichtlich finden die Werbestrategen der Körperpflegeindustrie mehr Gehör als die wachsende Zahl von Dermatologen, die für die Zunahme allergischer und anderer entzündlicher Hauterkrankungen eine übertriebene Hauthygiene als zumindest mitverantwortlich erachten. Ihrer Ansicht nach sollte man höchstens zwei bis dreimal die Woche duschen. Und selbst das nur lauwarm und mit möglichst sparsamem Seifen- beziehungsweise Duschgeleinsatz.

Neuzeitliche Angriffe auf ein bewährtes Biotop

Denn unsere Haut ist ein ökologisches Biotop, das man nicht zu sehr stören sollte. Hautfett, Schweiß sowie die angestammten Keime unserer Hautflora und deren Stoffwechselprodukte bilden ein Milieu, das sich seit vielen Jahrtausenden bewährt hat, unsere Haut gesund und geschmeidig zu erhalten. Noch in der Generation unserer Großeltern wurde der Badeofen oft nur einmal die Woche angeheizt. Meist gab es eine sparsame aber hautschonende kalte Katzenwäsche, wie sie die Mehrheit der Menschen seit alters her praktizierte.

Täglichem heißem Duschen mit üppigem Reinigungsmitteleinsatz ist unsere Haut nicht gewachsen. Ihr wird Fett entzogen, was Menschen mit ohnehin eher trockener Haut besonders hart trifft. Sie trocknet noch mehr aus und wird dabei anfällig für mechanische Verletzungen und chemische Reizungen. Falsche und zu intensive Pflege verändert zudem den Säureschutzmantel nachteilig und macht zumindest Teilen unserer Hautflora das Leben schwer.

Dort wo eine übertriebene Reinlichkeit die angestammte Hautflora ausdünnt, entstehen Nischen, in denen sich potenziell krankmachende Bakterien und Pilze breit machen können. Als Infektionserreger haben sie bei einer vorgeschädigten, trockenen und rissigen Haut leichteres Spiel.

Weniger ist oft mehr

Hat sich erst einmal eine Hautinfektion mit einem Bakterium oder einem Pilz etabliert, ist oftmals eine befristete Behandlung mit einem Antibiotikum oder Antipilzmittel erforderlich. Um dann nach Abheilung einer solchen Infektion einem Rückfall vorzubeugen, um solche Probleme oder auch nichtinfektiöse Hautleiden erst gar nicht entstehen zu lassen, raten viele Hautärzte als Mittel der ersten Wahl, die Körperpflege hautfreundlicher und damit ursprünglicher zu gestalten:

  • Duschen und baden Sie höchstens dreimal die Woche. Weniger wäre noch besser.
  • Wenn Sie duschen oder baden, dann möglichst kurz und nicht zu heiß. Lauwarm (maximal körperwarm) ist warm genug.
  • Sie müssen nicht bei jeder Dusche Seife oder andere Reinigungsmittel verwenden. Schweiß lässt sich auch gut und ausreichend mit kaltem oder lauwarmem, reinem Wasser abspülen.
  • Auch wer zu Körpergeruch neigt, braucht in der Regel keine tägliche Ganzkörperwäsche. Es genügt, sich mit einem Waschlappen um die besonders geruchsintensiven drei Regionen Achselhöhlen, äußerer Intimbereich und Füße zu kümmern.
  • Ob zur Hautreinigung basische Seifen, pH-neutrale oder saure Waschlotionen das kleinere Übel sind, wird immer wieder kontrovers diskutiert. Wie immer besonders dann, wenn Experten streiten, sollte man das nehmen, was einem subjektiv am besten bekommt.
  • Viele Hautpflegemittel sind ein zweischneidiges Schwert, insbesondere wenn sie allergene Duftstoffe und Konservierungsmittel enthalten. Auch diesbezüglich ist weniger oft mehr. Wer ausreichend sparsam duscht, seift und gelt, kann oft auf rückfettende Nachsorge verzichten.
  • Bei fettigen Haaren raten Friseure, die Haare versuchsweise weniger als gewohnt zu waschen. Denn eine durch zu viel Haarewaschen akut ausgetrocknete und gereizte Kopfhaut reagiert oft mit einer überschießenden Talgproduktion.

Der Mensch und seine Viren – eine Beziehung mit unterschätzten Chancen?

Es wurde hier bereits mehrfach angesprochen und gilt inzwischen als gesicherte Erkenntnis: Nur ein verschwindend kleiner Bruchteil aller Viren, Bakterien, Pilze und sonstigen Mikroben spielt für den Menschen als Infektionserreger eine krankmachende Rolle. Weit größer ist die Zahl derer, die für uns belanglos oder sogar nützlich sind. Aber selbst bei gesicherten Infektionserregern sollte häufiger als immer noch üblich der Frage nachgegangen werden, wie viel Freund womöglich im Feind steckt. Dies umso mehr, je menschenspezifischer ein Infektionserreger ist. Denn eine hohe Wirtsspezifität ist ein Indiz für eine lange gemeinsame Koevolution von Erreger und Wirt, an deren Ende eine durchaus symbiotische Beziehung zum beiderseitigen Nutzen stehen könnte. Im Nachfolgenden soll das fokussiert auf virale Infektionen erörtert werden.

Horrorviren sind auf falscher Fährte …

Tatsächlich gibt es Viren, die ihre Opfer rasch und effektiv umbringen. Aktuelles Beispiel war die Ebola-Epidemie, die 2014 und 2015 in Westafrika grassierte und in dieser Zeit dokumentiert mindestens 11.000 Todesopfer gefordert hat. Die Dunkelziffer dürfte weit höher gelegen haben. Mit dem Ebola-Virus Infizierte versterben in bis zu 90 Prozent der Fälle. Aber entsprechende Todesraten kommen nur zustande, weil der Mensch für das Ebola-Virus ein Fehlwirt ist, auf den es sich gelegentlich verirrt, mit dem es aber keine nennenswerte Zeit einer gemeinsamen koevolutionären Geschichte teilt. Angestammtes Reservoir des Ebola-Virus sind aller Erkenntnis nach Flughunde, mit denen es sich schon lange und damit weit besser arrangiert hat.

… und verlieren sich in Sackgassen der Evolution

Viren können eigenständig nicht überleben und sich auch nicht vermehren. Sie haben nicht einmal einen eigenen Stoffwechsel. Deshalb benötigen sie Zellen ihres Wirtes, die sie entern, denen sie ihre genetischen Informationen aufzwingen und sich so ihr eigenes Überleben und ihre Replikation sichern. Viren, die dabei zu destruktiv mit ihrem Wirt umgehen, sägen am Ast ihrer eigenen Existenz. Mit dem Tod des Wirtes erlischt ihre eigene Lebensgrundlage. Sie drohen in einer Sackgasse der Evolution zu verschwinden.

Im evolutionären Survival oft the Fittest geht es für Viren also einerseits darum, Strategien zu entwickeln, um Abwehrreaktionen ihres Wirtes zu unterlaufen. Gleichzeitig müssen virale Eigenschaften eliminiert werden, die den Wirt zu sehr belasten oder gar töten. In einem erfolgreichen koevolutionären Anpassungsprozess bewegen sich Wirt und Virus so aufeinander zu, dass sie sich wechselseitig immer weniger schaden.

Beispiele für vergleichsweise friedlichen Koexistenzen von Virus und Mensch

Das Ergebnis ist eine vergleichsweise friedliche temporäre oder dauerhafte Koexistenz wie wir sie in der Humanmedizin in zahlreichen, im Regelfall eher harmlosen Viruserkrankungen realisiert sehen. Bekannte Beispiele sind etwa virale Bagatellerkrankungen wie vor allem Erkältungen, die echte Grippe, virale Kinderkrankheiten wie Masern, Mumps, Röteln und Windpocken, aber auch Lippenherpes oder Infektionen mit vielfältigen Warzenviren (= Papillomaviren). Wenngleich diese Infektionskrankheiten in Einzelfällen durchaus komplikationsreich verlaufen können und damit nicht zuletzt berechtigte Argumente für Schutzimpfungen dagegen liefern, waren sie auch in der Vorimpfära für die meisten Menschen kein großes Problem.

Vom wechselseitigen Geben und Nehmen

Eine bislang leider immer noch zu selten gestellte Frage ist, inwieweit nicht nur die uns infizierenden Viren sondern auch wir etwas von einer solchen, sich meist über viele Jahrtausende koevolutionär entwickelten Beziehung haben. Denn in einer ökologisch organisierten Natur ist selten der eine nur der Nehmer und der andere nur der Geber. Eine solche Vorteilsgewährung durch das Virus wäre natürlich kein irgendwie bewusst von ihm gesteuerter Prozess sondern wie jede evolutionäre Entwicklung das Ergebnis zufälliger Mutationen. Alles, was durch virale Impulse das Überleben des Wirtes fördert, kommt auch wieder dem von seinem Wirt abhängigen Virus zugute und bedingt damit für beide einen richtunggebenden Selektionsdruck. Doch wie könnten Vorteile aussehen, die uns zumindest einige unserer Viren als Gegenleistung dafür bieten, dass sie uns gewissermaßen als Brutmaschinen benützen?

Kreuzimmunisierungen

Viren, mit denen wir uns bereits vergleichsweise gut arrangiert haben, könnten uns im Sinne einer Kreuzimmunisierung vor gefährlicheren Viren mit ähnlicher Antigenstruktur schützen. Bekanntestes Beispiel in diese Richtung ist das für uns vergleichsweise harmlose Kuhpockenvirus, das uns vor einer Infektion mit den echten Pocken feit. Die aufgrund der ausgestorbenen Pocken inzwischen nicht mehr notwendige Pockenschutzimpfung baute auf diesem Prinzip auf.

Als anderes Beispiel wird die durch Polioviren bedingte Kinderlähmung diskutiert. Sie hielt in unseren Breiten erst richtig Einzug, als Wohnbereiche zunehmend mit Spülklosetts ausgestattet wurden. Ein solcher zeitlicher Zusammenhang beweist noch keine kausale Beziehung. Aber eine plausible These ist, dass durch diese hygienische Verbesserung ehedem weit verbreitete harmlosere Enteroviren, die eine schützende Kreuzimmunisierung gegen Polioviren gewährten, zurückgedrängt worden sind. Enteroviren sind eine Virenklasse, zu der auch das Poliovirus gehört und die sich überwiegend durch fäkal-orale Schmierinfektionen verbreiten.

Die Masernviren des Menschen und die Staupeviren des Hundes sind so eng verwandt und so ähnlich immunogen, dass Hunde, die man mit einem humanmedizinischen Masernimpfstoff impft, gegen Staupe gefeit sind. Möglicherweise schützen auch uns durchgemachte Masern beziehungsweise der dagegen eingesetzte Lebendimpfstoff mit abgeschwächten Masernviren vor einer gefährlicheren Infektion mit artensprungfreudigen Staupeviren des Hundes, gab der Würzburger Virologe Professor Jürgen Schneider-Schaulies in einer 2013 veröffentlichten Arbeit zu bedenken.

Infektionen mit dem sehr weit verbreiteten aber harmloseren Herpes simplex Virus Typ 1 (HSV-1, Lippenherpes) schützen im Sinne einer Kreuzimmunisierung partiell gegen das seltenere aber unangenehmere Herpes simplex Virus Typ 2 (HSV-2, Genitalherpes), erklärte auf Anfrage der Herpesspezialist Professor Andreas Sauerbrei aus Jena. Eine HSV-2-Infektion bei bereits HSV-1-Infizierten verläuft milder als bei Menschen, die ihren ersten HSV-Kontakt mit HSV-2 haben.

Man würde sicherlich noch zahlreiche weitere Beispiele für solche Kreuzimmunisierungen finden. Erstaunlicherweise hat sich die Wissenschaft aber bislang nur wenig damit beschäftigt.

Andere vorstellbare Hilfestellungen durch Viren

2001 erschien in einer renommierten US-amerikanischen medizinischen Fachzeitschrift eine Studie, die einen Zeitraum überblickte, in dem man noch keine hoch effektive Therapien wie heute gegen HIV hatte. Die Studie deckte auf, dass HIV-Patienten, die zugleich mit einem bislang als harmlos eingeschätzten Hepatitis G-Virus infiziert waren, eine signifikant bessere Prognose hatten als HIV-Patienten ohne eine solche Koinfektion. Diese Beobachtung wurde im weiteren Verlauf von anderen Arbeitsgruppen bestätigt. Dabei war der Schutz, den die Hepatitis G-Viren gegen HI-Viren gewährten, ein andere als die hier bereits abgehandelte Kreuzimmunisierung. Eine Vermutung zu diesem Wirkmechanismus war, dass das Hepatitis G-Virus Schleusenrezeptoren blockiert, über die auch das HI-Virus in Zellen gelangt

Es sind noch zahlreiche weitere mehr oder weniger spekulative Mechanismen vorstellbar, wie den Menschen befallende Viren unsere und damit auch ihre Überlebens- und Vermehrungsbedingungen verbessern. Sie könnten zum Beispiel unseren Sexualtrieb anstacheln oder unseren Alterungsprozess verlangsamen. Der Phantasie sind hier kaum Grenzen gesetzt. Eine phantastische Sache, die sich aber inzwischen zumindest in Ansätzen auf harte wissenschaftliche Fakten stützen kann, ist die, dass uns unsere Viren möglicherweise beim Kampf gegen Krebs helfen.

Viren gegen Krebs

Es gilt als bewiesen, dass einige Viren Krebs auslösen oder begünstigen können. So kommt etwa Leberkrebs als eine bekannte Spätfolge chronischer Infektionen mit Hepatitis B- und Hepatitis C-Viren infrage. Einige Humane Papillomaviren (HPV) stehen am Pranger, gelegentlich Gebärmutterhalskrebs und möglicherweise auch bösartige Entartungen am männlichen Genital und im Mund-Rachenraum zu induzieren. Weniger bekannt ist, dass viele Viren umgekehrt offensichtlich ein onkolytisches Potenzial haben. Das heißt, Krebszellen, die sie befallen, werden zerstört. Dieser Sachverhalt wird seit kurzem (wieder) forciert für die schulmedizinische Krebstherapie beforscht. So ist bereits ein gentechnisch verändertes Herpes simplexVirus Typ 1 gegen fortgeschrittene maligne Melanome (schwarzer Hautkrebs) zugelassen und mit zahlreichen weiteren menschlichen Viren laufen schon klinische Studien gegen andere Krebsarten. Neben Herpesviren bedient man sich unter anderem auch Influenza (Grippe)- und Masernviren. Zwar werden die meisten dieser Viren gentechnisch verändert um ihr krankmachendes Potenzial abzuschwächen, sie spezifischer und effektiver auf Krebszellen auszurichten und wohl auch, um sie besser patentrechtlich schützen zu können. Dass man aber überhaupt auf die Idee kam, Viren gegen Krebs einzusetzen, geht auf sporadische Beobachtungen zurück, wonach Krebskranke spontan gesundeten, nachdem sie eine Virusinfektion durchlaufen hatten. Und tatsächlich scheint es so zu sein, dass einige Viren bevorzugt Krebszellen befallen, weil diese antiviral oft schlechter gerüstet sind als gesunde Zellen.

Wenn man nun aber Viren zumindest in seltenen Einzelfällen sogar die Heilung von einer fortgeschrittenen Krebserkrankung verdankt, wie viel wahrscheinlicher mutet dann die Vorstellung an, dass uns Viren vielleicht bereits in frühen Krebsstadien unbemerkt zu Hilfe kommen und das bösartige Leiden abwenden. Vielleicht werden bei jeder Grippewelle, die durch eine Bevölkerung rauscht, zahlreiche gerade entstehende Krebse zerstört und keiner merkt es, weil bislang keiner danach geschaut hat. Und inwieweit wir vielleicht onkologisch von jährlichen Masernepidemien profitiert haben, hat auch niemand untersucht.

Evolutionstheoretisches zur Impfdiskussion

Aus diesen und anderen Gründen kommt man eigentlich nicht umhin, auch zur  Impfdiskussion ein paar evolutionstheoretisch gefärbte Worte zu verlieren. Ein Ziel etablierter Schutzimpfungen ist ja, nicht nur den einzelnen Impfling zu schützen, sondern dank möglichst zahlreich Geimpfter eine Herdenimmunität zu schaffen. Das heißt, durch einen möglichst dichten Ring von Geimpften wird es dem jeweiligen Erreger erschwert, in einer Bevölkerung zu zirkulieren. Auf diese Weise sind dann auch Menschen geschützt, die man selbst nicht impfen kann; etwa weil sie noch nicht das Mindestalter für die jeweilige Impfung haben, sie eine Impfung nicht vertragen oder aber ihr gestörtes Immunsystem keine ausreichende Impfantwort gewährt. Bei Erregern, die exklusiv den Menschen befallen, ist die Ausrottung solcher Erreger ein Fernziel von Impfungen. Bislang ist das nur bei den Pocken gelungen.

Aus evolutionstheoretischer Sicht und insbesondere unter Würdigung des letzten Zwischenkapitels drängen sich allerdings auch potenzielle Kehrseiten von Impfungen auf, die man zumindest diskutieren sollte. Nachfolgend ein paar ketzerische Gedanken.

Replacementrisiken und andere verborgene Nebenwirkungen

Schafft man es tatsächlich, einen schon lange etablierten Erreger aus einer Bevölkerung mittels Impfungen zu verbannen, besteht das Risiko, dass diese neu geschlagene Lücke früher oder später ein anderer Erreger, mit dem wir uns womöglich noch kaum arrangiert haben, besetzt. Man denke an das oben zitierte Masern-Staupe-Szenario. Wir hätten dann infolge eines solchen so genannten Erreger-Replacements womöglich Nieselregen gegen eine Traufe getauscht.

Im letzten Zwischenkapitel wurde dargelegt, dass wir besonders von den Viren, mit denen wir eine lange gemeinsame Koevolution teilen, womöglich Nutzenpotenziale erwarten dürfen, die über einen Replacement-Schutz hinaus gehen. Da wir nie wirklich nach diesen Nutzenpotenzialen bis hin zu onkologischen Konsequenzen gefahndet haben, wissen wir eigentlich nicht, wie hoch der Nettonutzen einer Impfung, mit der wir die Beziehung zu solchen Viren weitgehend beenden haben, wirklich war und ist. Vielleicht sollten wir da bei neuen Impfungen etwas genauer hinschauen als wir es bisher getan haben. Dies umso mehr, je harmloser eine Infektionskrankheit ist, gegen die es neue Impfbestrebungen gibt.

Abnehmende natürliche Boosterung bei Kinderkrankheiten

Bei den klassischen Kinderkrankheiten wie etwa den Viruserkrankungen Mumps, Masern, Röteln und Windpocken oder dem bakteriell bedingten Keuchhusten galt ursprünglich die Devise, man bekomme sie nur einmal und ist dann lebenslang davor gefeit. Möglicherweise stimmt diese Botschaft aber nur unter natürlichen, evolutionär bewährten Verhältnissen. Denn wenn jährlich oder zumindest alle paar Jahre immer wieder eine Welle dieser Kinderkrankheiten durch die noch nicht immunisierten Nachgeborenen schwappte, wurde automatisch die Immunität der Bevölkerung, die diese Kinderkrankheiten bereits durchlaufen hatte, immer wieder aufgefrischt. Gelingt es dank Impfungen, Erreger von Kinderkrankheiten soweit zurück zu drängen, dass sie in der Bevölkerung nicht mehr oder kaum noch zirkulieren, entfällt diese natürliche Auffrischung. Kommt es dann nach vielen Jahren doch wieder zu einem Erregerkontakt, kann man womöglich die entsprechende Kinderkrankheit auch ein zweites Mal bekommen. Während dieses Szenario für die viralen Kinderkrankheiten weitgehend noch ein theoretisches ist, gilt es bei Keuchhusten inzwischen als erwiesen. Für Keuchhusten gibt es deshalb bereits offizielle Empfehlungen, die Impfung dagegen mindestens einmal im Erwachsenenalter aufzufrischen.

Schwindender Nestschutz

Eine weitere denkbare Konsequenz der nicht mehr gewährten natürlichen Auffrischung ist ein nachlassender Nestschutz. Dazu muss man wissen, dass Neugeborene noch über kein eigenes spezifisches Immunsystem verfügen. Sie müssen es durch verschiedene Erregerkontakte erst langsam aufbauen. Um in den besonders empfindlichen ersten Lebenswochen und –monaten dennoch gegen die häufigsten Infektionskrankheiten geschützt zu sein, kreisen im Blut der kleinen Kinder Leihantikörper aus dem mütterlichen Immunsystem. Dieser so genannte Nestschutz ist umso effektiver, je höher die entsprechende Antikörperkonzentration im Blut der Mutter zum Zeitpunkt der Geburt war. Mütter, bei denen eine natürliche Auffrischung schon lange zurück liegt, haben niedrigere Spiegel entsprechender Antikörper als Mütter mit erst kürzlich erfolgter Auffrischung. Zirkuliert infolge dagegen forcierter Impfungen ein Erreger kaum noch, wird eine solche natürliche Auffrischung immer unwahrscheinlicher und entsprechend schlechter wird der Nestschutz, den eine Mutter ihrem Kind bei der Geburt mitgibt. Bis dann das Kind selbst geimpft werden kann – gegen Masern, Mumps, Röteln und Windpocken also frühestens im 11. Lebensmonat – ist der kleine Erdenbürger gegen diese Kindererkrankungen dann womöglich schlechter gefeit als er es in der Vorimpfära gewesen wäre. Dieses Risiko wird aber durch die Herdenimmunität (siehe oben), die möglichst breite Impfkampagnen gewähren, wieder relativiert.

Reisen allerdings kleine Kinder mit schlechtem Nestschutz in ein Gebiet, in denen das eine oder andere Kinderkrankheiten-Virus noch deutlich häufiger zirkuliert als bei uns oder würde ein entsprechendes Virus von dort wieder zu uns eingeschleppt, droht eine gefährliche Frühinfektion.

Der heute oft mangelhafte Nestschutz ist eine Konsequenz der gegenwärtigen Impfstrategie. Um den Nestschutz in geimpften Populationen wieder ein bisschen hochzurüsten, wäre zu prüfen, inwieweit es sinnvoll ist, bei Frauen im Vorfeld einer Schwangerschaftsplanung noch einmal gegen die eine oder andere Kinderkrankheit auffrischend zu impfen. Damit könnte man heute nicht mehr ausreichend vorhandene natürliche Boostereffekte etwas imitieren.

An alle evolutionstheoretisch argumentierenden Impfgegner: Gegen Kinderkrankheiten spätestens zum Ende der Kindheit impfen

Selbst wenn aus evolutionstheoretischer Sicht das eine oder andere impfkritische Argument durchaus zu würdigen wäre, gilt festzuhalten, dass sich die maßgeblichen Stellen in unsere Gesellschaft dafür entschieden haben, eine klare Empfehlung für die Impfung gegen die klassischen Kinderkrankheiten auszusprechen. Mit dieser Empfehlung und der Tatsache, dass die meisten Eltern dieser Empfehlung folgen, haben auch Impfgegner zu leben. Enthalten sie ihren Kindern die Impfung vor, sind diese dennoch mit hoher Wahrscheinlichkeit durch die Herdenimmunität geschützt, was dann aber im weiteren Lebensverlauf zu einem erheblichen Problem werden kann. Denn wenn aufgrund einer breiten Durchimpfung gegen eine Infektionskrankheit der entsprechende Wilderreger kaum noch zirkuliert, um über die Infektion eine natürliche Immunität zu gewährleisten, sind Ungeimpfte mit hoher Wahrscheinlichkeit ohne jeden Eigenschutz. Kommen sie dann im Erwachsenenalter, etwa auf einer Reise in Ländern mit einer anderen epidemiologischen Situation oder weil der verbannte Erreger von dort wieder zu uns eingeschleppt wird, in Kontakt mit diesem Erreger, droht ihnen eine Erstinfektion, die oft wesentlich heftiger und komplikationsreicher verläuft als im Kindesalter. Dies ist eine bekannte Tatsache, die wohl darauf zurückzuführen ist, dass unser Immunsystem evolutionär keine beziehungsweise nur begrenzte Strategien entwickelt hat, um mit einer Kinderkrankheit im Erwachsenenalter fertig zu werden (siehe Kasten). Deshalb sollten Menschen, die aus vielleicht durchaus noch nachvollziehbaren Überlegungen nicht bereits im frühen Kindesalter gemäß dem offiziellen Impfkalender gegen klassische Kinderkrankheiten geimpft worden sind, diese im späten Kindes- oder im Jugendalter wohl besser nachholen, sofern sie die jeweiligen Krankheiten bis dahin nicht spontan durchlaufen haben.

Was Kinderkrankheiten mit Kindern zu tun haben

Kinderkrankheiten heißen keineswegs so, weil sich nur Kinder mit ihnen infizieren. Erwachsene, die weder durch die durchgemachte Erkrankung noch durch eine Impfung dagegen immunisiert sind, bekommen die Erkrankung genauso leicht wie Kinder. Da es sich allerdings bei den Erregern von Kinderkrankheiten um besonders infektiöse Spezies handelt, mit denen man sich sehr leicht ansteckt, war – bevor man dagegen impfen konnte – die statistische Wahrscheinlichkeit ausgesprochen groß, bereits früh im Leben mit ihnen konfrontiert zu werden. Die längste Zeit der Menschheitsgeschichte fand die immunisierende Auseinadersetzung mit diesen hoch infektiösen Erregern also in der Kindheit statt. Entsprechend dürfte sich auch die Evolution von Erstbewältigungsstrategien gegen diese Erreger auf diesen Lebensabschnitt konzentriert haben. Im späteren Leben hat man solche Erstabwehrstrategien unter natürlichen Verhältnissen kaum noch gebraucht, weshalb sie sich dort nie in infantiler Perfektion entwickeln mussten oder sich sogar wieder rückgebildet haben. Dies kommt als entscheidender Grund infrage, warum eine erst im Erwachsenenalter erworbene Kinderkrankheit in der Regel deutlich schwerer verläuft als im Kindesalter.

Das ganze Kapitel noch mal in Stichpunkten

  • Zu den Umweltbedingungen, an die uns unsere Evolution angepasst hat, gehört auch die mit bloßem Auge unsichtbare Welt der Mikroben und Viren.
  • Auch diese Dimensionen des uns umfassenden ökologischen Netzwerkes sollten wir nicht unnötig stören.
  • Die schulmedizinisch akzeptierte und zunehmend untermauerte Hygienehypothese beschuldigt eine unzureichende Auseinadersetzung mit Mikroben, Viren und Parasiten – insbesondere in der frühen Kindheit – als eine wichtige Ursache für die Zunahme von Allergien und Autoimmunerkrankungen.
  • Nichts gegen Sauberkeit im Haushalt. Aber porentief rein oder gar steril schadet deshalb wohl mehr als es nützt.
  • Beobachtungen auf Bauernhöfen legen nahe, dass das Aufwachsen mit Tieren inklusive ihrer Keime günstige Auswirkungen auf das menschliche Immunsystem hat und insbesondere das Allergierisiko senkt.
  • Wenn kleine Kinder alles was sie greifen können, in den Mund stecken, hat das einen evolutionär bewährten guten Grund. Sonst würden es nicht ausnahmslos alle kleinen Kinder tun. Es ist offensichtlich eine Strategie, das kindliche Immunsystem zu stimulieren und zu prägen. Spitze oder scharfkantige Kleinteile sowie neuzeitlich Schadstoffbelastetes haben allerdings im Kindermund und damit in der Kleinkinderhand nichts zu suchen.
  • Unsere Haut ist ein evolutionär bewährtes ökologisches Biotop, das unter übertriebener Körperhygiene leidet.
  • Tägliches Duschen mit heißem Wasser und aggressiven Reinigungsmitteln ist eine relativ neue, fragwürdige Errungenschaft.
  • Irritierte Haut braucht oft weniger statt mehr Pflege.
  • Nur ein kleiner Teil aller Mikroben und Viren kommt als Infektionserreger für den Menschen infrage. Die meisten Vertreter aus diesen Gruppen sind für uns belanglos oder gar nützlich.
  • Selbst klassische Infektionserreger könnten ihre guten Seiten haben, nach denen man bislang aber noch viel zu wenig sucht.
  • Dies gilt insbesondere auch für häufig und exklusiv den Menschen befallende Viren, mit denen wir eine lange gemeinsame Koevolution teilen.
  • Erfolgreiche Impfkampagnen können evolutionär bewährte Verhältnisse verändern. Das rechtfertigt nicht, Impfungen infrage zu stellen, sollte aber in der Kosten-Nutzen-Analyse berücksichtigt werden.
  • Je harmloser eine Infektionskrankheit ist, desto kritischer sollte auch aus evolutionstheoretischer Sicht eine Impfung dagegen diskutiert werden.
  • Kinderkrankheiten werden durch hoch ansteckende Erreger verursacht, die uns historisch fast immer bereits in der Kindheit erwischten. Im Gegenzug sorgte unsere Evolution dafür, kindliche Bewältigungsstrategien zu perfektionieren.
  • Kinderkrankheiten neigen zu schwereren, komplikationsträchtigen Verläufen, wenn sie uns mangels Nestschutz zu früh (erstes Lebenshalbjahr) oder mangels rechtzeitiger Immunisierung erst als Erwachsenen treffen.

Impfverweigerer sollten daran denken, dass es heute vor allem sie beziehungsweise ihre Kinder sind, die als Erwachsene in eine solche Situation geraten könnten. Denn in einer mehrheitlich geimpften Umgebung gibt es zu wenige zirkulierende Wilderreger, um eine rechtzeitige spontane Immunisierung zu gewährleisten.

Kapitel VI: Zivilisatorischer Sinneswandel

Die längste Zeit unserer Geschichte schauten wir weit mehr als heute in die Ferne und weit weniger in die Nähe. Moderne Zeiten zwingen die meisten von uns zu intensiver Nahsicht. Arbeit ist inzwischen überwiegend Naharbeit. Wir starren auf Papierseiten oder Bildschirme. Schulkinder verbringen mehr als die Hälfte des Tages ausbildungsbedingt lesend und schreibend. Selbst in der Freizeit fixieren Computer- und Handyspiele zu oft den Blick auf kurze Entfernungen. Es spricht einiges dafür, dass diese neuen Sehgewohnheiten maßgeblich an der weltweiten Zunahme der Kurzsichtigkeit beteiligt sind; eine Erkenntnis, die besonders bei Kindern präventiv genutzt werden könnte.

Während sich Kurzsichtigkeit bereits in jungen Jahren manifestiert, sind die meisten anderen häufigen Augenleiden wie Grüner und Grauer Star oder verschiedene degenerative Netzhauterkrankungen eher Probleme des fortgeschrittenen Alters. Ob und wann es jemanden trifft, ist ebenfalls nicht nur eine Frage der Genetik sondern auch des Lebensstils.

Wie die Augen, leiden auch die Ohren unter modernen Verhältnissen. Insbesondere die zunehmende Lärmbelastung setzt ihnen zu. Lärm gefährdet aber nicht nur unser Gehör. Er ist ein erheblicher Stressfaktor, der uns bereits in Lautstärken zusetzt, die für das Ohr eigentlich noch unbedenklich wären.

Warum finden wir auf den farbigen Klassenfotos unserer Kinder weit mehr Brillenträger als noch auf den Schwarzweißbildern aus der Schulzeit unserer Großeltern? Wie entsteht nach aktuellen Erkenntnissen Kurzsichtigkeit und welche Präventionsmaßnahmen ergeben sich daraus? Warum und wie schadet ein zu Übergewicht führender Lebensstil auch unseren Augen und Ohren? Ab welchen beruflichen und privaten Lärmbelastungen droht Lärmschwerhörigkeit? Warum ist der Schallpegel allein ein unzureichender Maßstab zur Beurteilung von Lärmbelastungen? Antworten finden Sie in diesem Kapitel.

Zu viel kurze Sicht fördert Kurzsichtigkeit

Geh nicht so nahe ran, sonst wirst Du kurzsichtig! Eine solche von Eltern oder Großeltern ausgesprochene Mahnung dürfte vielen aus der eigenen Kindheit bekannt vorkommen. Zahlreiche Wissenschaftler und Augenärzte haben diese Warnung aber lange Zeit immer wieder als unberechtigt abqualifiziert. Kurzsichtigkeit (Myopie) sei weitgehend genetisch bedingt. Kinder, die auffällig nah z.B. an ihren Lesestoff ran gehen, würden davon nicht kurzsichtig sondern sie gehen so nah ran, weil sie eben vielleicht schon kurzsichtig sind. Inzwischen glaubt man aber zu wissen, dass an beiden Meinungen was daran ist. Die Veranlagung zur Kurzsichtigkeit ist tatsächlich genetisch bedingt. Ob dann aber diese Veranlagung zur Kurzsichtigkeit führt, wird maßgeblich durch Seh- und auch andere Lebensgewohnheiten bestimmt, die letztendlich wieder nicht mehr artgerecht sind. Bevor wir hier ins Detail gehen, ein kleiner Ausflug in die Augenkunde für die, die im Biologieunterricht nicht richtig aufgepasst haben oder sich nicht mehr daran erinnern.

Kurz- und Weitsichtigkeit

Um scharf zu sehen, müssen die von angeschauten Objekten reflektierten Lichtstrahlen exakt auf der Netzhaut gebündelt werden. Beim kurzsichtigen Auge liegt dieser Brennpunkt aber vor der Netzhaut. Während im Nahbereich die Sicht noch scharf ist, werden entferntere Objekte nur verschwommen oder „weich gezeichnet“ wahrgenommen. Die Situation ist wie bei einer auf die Nähe fokussierten Kamera. Ursache ist in der überwiegenden Zahl der Fälle ein zu langes Auge. Abhilfe schafft eine Brille, bei der dem Sehfehler angemessene Streulinsen (Minusgläser) den Brennpunkt soweit nach hinten verschieben, bis er exakt auf die Netzhaut trifft.

Beim weitsichtigen Auge liegt der Brennpunkt hinter der Netzhautebene. Die Situation entspricht einer auf die Ferne eingestellten Kamera. Insbesondere nahe Objekte werden unscharf gesehen. Ursache ist ein im Verhältnis zu seinen Brechungseigenschaften zu kurzes Auge. Anders als bei der Kurzsichtigkeit, kann die Augenlinse eine augenlängenbedingte Weitsichtigkeit in jüngeren Jahren in erheblichem Maße ausgleichen, so dass hier oft lange Zeit keine Sehbeeinträchtigung auffällt. Ab etwa dem 40. Lebensjahr ist jedoch die dazu notwendige Flexibilität der Augenlinse nicht mehr gegeben. Um nahe Objekte dennoch scharf zu sehen, bedarf es jetzt einer Brille mit Sammellinse (Lesebrille, Plusgläser). Weitsichtigkeit infolge einer mit dem Alter unflexibel werdenden Linse (Akkommodationsverlust) trifft übrigens auch alle mit normal gebautem Auge; nur oft etwas später und schwächer als Menschen, deren Auge schon immer ein bisschen zu kurz war.

Bei uns ist heute mindestens jeder Dritte kurzsichtig

Bis ins Vorschulalter oder frühe Schulalter sind Kinder natürlicherweise weit- oder besser übersichtig. Sie merken allerdings nichts davon, zumal ihre hoch elastische Augenlinse diese „physiologische“ Übersichtigkeit problemlos ausgleicht. Trotz noch suboptimaler Augenlängenverhältnisse sehen sie sowohl in der Nähe als auch in der Ferne scharf. Im weiteren Entwicklungsverlauf wächst das Auge seiner optimalen Form entgegen. Bei einem nicht unerheblichen Teil der Kinder wächst das Auge jedoch über die ideale Länge hinaus und sie werden kurzsichtig. Spätestens zwischen dem zwanzigsten und dreißigsten Lebensjahr kommt die Progression der Kurzsichtigkeit zwar meist zum Stillstand, besser kann sie aber aller Erkenntnis nach dann auch nicht mehr werden.

In den westlichen Industrienationen sind derzeit rund 30 Prozent aller Menschen kurzsichtig, in manchen Regionen des Fernen Ostens gar über 80 Prozent. Eine ethnische Ungleichverteilung sowie familiäre Häufungen – so teilen eineiige Zwillinge zu etwa 80 Prozent das Leiden – verweisen auf die genetische Komponente der Kurzsichtigkeit. Die beispielsweise anhand von Musterungsbescheiden oder Schuluntersuchungen dokumentierte Zunahme der Kurzsichtigkeit in den letzten Jahrzehnten spricht aber auch für einen nicht unerheblichen Umwelteinfluss. Die Tatsache, dass im Grundschulalter auf neuen Klassenfotos viel mehr Brillenträger als auf Klassenfotos früherer Generationen zu sehen sind, mag zu einem gewissen Teil auf eine besser gewordene augenärztliche Kontrolle von Schulkindern rückführbar sein. An einer echten Zunahme gibt es inzwischen aber kaum noch kompetente Zweifel.

Sehverhalten in Kindheit beeinflusst das Längenwachstum des Auges

Als myopiefördernder Umweltfaktor Nummer eins auf der Anklagebank der Augenheilkunde gilt heute (wieder) die Naharbeit. Offensichtlich stimulieren längerfristige Tätigkeiten mit kurzer Sehdistanz – so vor allem das Lesen – in dem dafür offenen Zeitfenster von Kindheit und Jugend bei genetisch Disponierten das Längenwachstum des Auges. Zahlreiche epidemiologische und experimentelle Befunde stützen diese Feststellung. So gibt es Studien, die zeigen, dass Kinder im Schnitt umso häufiger und stärker kurzsichtig werden je früher sie in die Schule kommen und je mehr Schulstunden sie absolvieren. Studenten sind häufiger kurzsichtig als weniger nahblickfixiert tätige Altersgenossen und in Prüfungszeiten schreitet die Kurzsichtigkeit rascher voran als in den Ferien. Verschiedenartige Versuchstiere werden reproduzierbar langäugig kurzsichtig, wenn man ihnen in engen Käfigen jede Gelegenheit zur Fernsicht raubt.

Ein evolutionär bewährter Mechanismus, der an neuzeitlichen Verhältnissen scheitert

Offensichtlich wächst das Auge zu einem gewissen Anteil unabhängig vom Rest des Körpers. Myopieforscher wie der auf diesem Gebiet maßgebliche Pionierarbeit leistende Professor Frank Schaeffel von der Universitätsaugenklinik Tübingen ist überzeugt, dass das Sehverhalten von Kindern, Jugendlichen und jungen Erwachsenen zumindest bei genetisch dazu Disponierten maßgeblich die Feinjustierung des Augenwachstums steuert. Das, was sich unter natürlichen Verhältnissen bestens bewährt hat, endet unter modernen Voraussetzungen für einen erheblichen Teil der Menschheit im Nebel. Der Blick unserer Ahnen und ihrer Kinder war überwiegend in die Ferne gerichtet. Beutetiere, Sammelobjekte und unterschiedlichste Gefahren mussten frühzeitig erkannt werden. Naharbeit spielte eine untergeordnete Rolle. Lesen war die längste Zeit der Menschheitsgeschichte noch kein Thema und hatte selbst in der jüngeren Vergangenheit für die Wenigsten den heutigen Stellenwert. Die Augen wurden deshalb auf gute Fernsicht geeicht und das Längenwachstum stoppte am Punkt entspannten guten Distanzsehens. Heute werden wir dagegen von früher Kindheit an auf Nahsehen getrimmt. Die neuen Medien verschärfen das Problem zusätzlich. Man sieht kaum noch ältere Kinder und Jugendliche ohne Handydisplay vor der Nase. Der urzeitliche Befehl, das Längenwachstum des Auges optimal der dominierenden Sehanforderung anzupassen, ergibt deshalb inzwischen oft ein Auge, das zu lang ist, um ohne Brille scharf in die Ferne sehen zu können.

Neigt vielleicht sogar das besonders leistungsstark angelegte Auge neuzeitlich zur Kurzsichtigkeit?

Wenn ein offensichtlicher genetischer Mangel wie die Anlage zur Kurzsichtigkeit bei 30 bis über 80 Prozent einer Bevölkerung zugegen scheint, fragt man sich als Evolutionstheoretiker natürlich immer, wie sich ein solcher Mangel in diesem Maße unter der Prämisse des Survival of the Fittest ausbreiten konnte. Vielleicht deshalb, weil es unter ursprünglichen Verhältnissen gar kein Mangel sondern ein Vorteil war, ein Auge zu haben, das nicht pauschal mit dem Körper mitwächst, sondern das hoch sensibel reagierend auf relevante Umweltreize seine optimale Form findet. Die Anlage zur Kurzsichtigkeit wäre damit gar keine Anlage zur Kurzsichtigkeit, sondern eine Anlage zur besonders exakten ontogenetischen Feineinstellung des Auges. In diesem Sinne könnten es deshalb gerade die potenziell überdurchschnittlich leistungsstarken Augen sein, die unter nicht mehr artgerechten Lebensverhältnissen am meisten leiden. Für diese Spekulation, die aber auch Professor Schaeffel so (noch) nicht unterschreiben wollte, könnte unter anderem sprechen, dass etwa Indianer und andere Angehörige mongolischer Rassen, denen man historisch eine besonders scharfe Sicht zuschrieb, unter modernen Lebensverhältnissen öfter als Angehörige europäischen Ursprungs brillenpflichtig werden.

Mehr Licht gegen zu lange Augen

Als zweiten wichtigen neuzeitlichen Umweltfaktor, der ein zu sehr in die Länge wachsendes und damit kurzsichtig werdendes Auge begünstigt, haben Forscher den bereits in Kapitel IV aus anderer Perspektive angeklagten chronischen Lichtmangel im Visier. Aufsehen erregte in diesem Zusammenhang unter anderem eine Studie aus Taiwan mit dem Ergebnis, wonach Schulkinder, die gezielt mehr ins Freie geschickt wurden, seltener und schwächer kurzsichtig wurden als gleichaltrige Stubenhocker. Möglicherweise spielt hier der lichtabhängige Dopaminstoffwechsel im Auge eine Rolle. So wurde bereits in Tierversuchen bestätigt, dass eine hohe Dopaminkonzentration in der Netzhaut das Längenwachstum des Auges bremst. Die Höhe dieser Dopaminkonzentration nimmt wiederum mit der Lichtstärke zu, die auf die Netzhaut strahlt. Und wie Sie bereits in Kapitel IV gelesen haben, übertrifft Tageslicht unter freiem Himmel die Helligkeit üblicher inhäusiger Lichtverhältnisse um das bis zu Tausendfache.

Kurzsichtigkeit vorbeugen

Nach aktueller schulmedizinischer Lehrmeinung kann eine bestehende Kurzsichtigkeit durch keinerlei Sehübungen mehr rückgängig gemacht werden. Es gibt bislang nur Optionen, den Sehfehler mit Brille bzw. Kontaktlinsen oder einem nicht immer unproblematischen refraktärchirurgischen Eingriff (z.B. LASIK, Intraokularlinsen) zu korrigieren. Umso wichtiger wäre, durch vorbeugende Maßnahmen in Kindheit, Jugend und jungem Erwachsenenalter der Entwicklung einer Kurzsichtigkeit Einhalt zu gebieten. Und das heißt bislang vor allem: Möglichst oft in die Ferne schauen und möglichst oft tagsüber ins Freie gehen. An schulischer Naharbeit führt gegenwärtig wohl kein praktikabler Weg vorbei. Aber die Freizeit sollte wieder vermehrt so gestaltet werden, wie es unserem evolutionären Erbe angemessen ist. Schicken Sie Ihre Kinder so oft es geht nach draußen. Freiluftsport ist besser als Hallensport, aber Hallensport ist immer noch um vieles besser als Computerspiele und permanentes SMS-Lesen auf Handydisplays. Während unvermeidlicher Naharbeit wäre es wichtig, für gute Lichtverhältnisse zu sorgen, wenigstens 30 Zentimeter Abstand zu wahren und den Blick möglichst oft immer wieder in die Ferne schweifen zu lassen. Der Schreibtisch ist deshalb so zu platzieren, dass Sicht durch ein Fenster ins Freie gewährleistet ist. Gut wäre, wenn Schüler auch von Lehrern immer wieder zu „Fernsichtpausen“ ermuntert würden.

Wie Professor Schaeffel auf Anfrage mitteilte, ist das myopiepräventive Potenzial von die Fernsicht anregenden sportlichen (insbesondere Ballspiele) und sonstigen Aktivitäten bei hellem Tageslicht unter freiem Himmel wohl umso größer, je früher in der Kindheit damit begonnen und je regelmäßiger und anhaltender es praktiziert wird.

Leider fehlen bislang große, methodisch unangreifbare Studien, die den Nutzen der geschilderten Vorbeugemaßnahmen gegen Kurzsichtigkeit zweifelsfrei belegen. Vielleicht werden deshalb die entsprechenden Empfehlungen bislang nur halbherzig propagiert. Dabei wären doch konzertierte Aktionen, die zumindest erreichen, dass Kinder und Jugendliche wieder viel mehr zu Sport und Spiel raus gehen, auch unabhängig vom Thema Kurzsichtigkeit mehr als wünschenswert.

Allbekannte Risiken für Herz und Kreislauf schaden auch den Augen

Auch die meisten degenerativen Augenerkrankungen des fortgeschritteneren Lebensalters werden durch unsere nicht mehr artgerechte Lebensweise gefördert. So kommt etwa die in jungen Jahren erworbene Kurzsichtigkeit, von der wir gerade gehört haben, dass sie Resultat falscher neuzeitlicher Sehgewohnheiten sein kann, als ein Risikofaktor für verschiedene spätere Augenleiden infrage. Noch entscheidender ist aber auch hier wohl ein wichtiger Leitsatz der Medizin, wonach der Mensch und seine Organe so alt sind wie seine Gefäße. Alles, was unsere Durchblutung und insbesondere die Mikrozirkulation von empfindlichen Sinnesorganen stört, treibt deren Degeneration voran. Durchblutungsstörungen und dadurch bedingte Ver- und Entsorgungsmängel leisten nicht nur Netzhauterkrankungen wie der diabetischen Retinopathie oder verschiedenen Formen der senilen Makuladegeneration Vorschub, sondern wohl auch dem Grauen (Linsentrübung) und dem Grünen (erhöhter Augendruck) Star.

Ernste Durchblutungsstörungen sind bekanntlich zumeist die Folge arteriosklerotischer Verengungen und Versteifungen größerer bis kleinster Gefäße. Und die bedeutsamsten Risikofaktoren dafür sind neben dem Rauchen Übergewicht, Zucker- und Fettstoffwechselstörungen sowie chronisch hoher Blutdruck. Risikofaktoren also, die mehrheitlich wiederum durch falsche Ernährungsgewohnheiten (siehe Kapitel II) und einen Mangel an Bewegung (siehe Kapitel III) gefördert werden. Eine artgerechte Ernährung mit viel frischem Gemüse und Obst sichert übrigens auch eine optimale Versorgung mit Spurenelementen, antioxidativ wirksamen Vitaminen und sekundären Pflanzenstoffen, auf die das Hochleistungssinnesorgan Auge mit all seinen empfindlichen Strukturen in besonderem Maße angewiesen ist.

Lärm – Gift nicht nur für die Ohren

Für das Hörvermögen ist ebenfalls eine optimale Durchblutung aller funktionellen Einheiten unserer Ohren entscheidend. An Hörminderungen, Ohrgeräuschen (Tinnitus) oder einem Hörsturz können Durchblutungsstörungen ursächlich maßgeblich mitbeteiligt sein. Alles was die Durchblutung fördert, kommt deshalb auch unseren Ohren zugute, wobei wir wieder vor allem bei gesunder artgerechter Ernährung und ausreichender Bewegung sind. Was unsere Hörleistung aber zusätzlich speziell gefährdet, ist akuter und chronischer Lärm. Der kann aber auch bereits in einem für die Ohren noch unschädlichem Ausmaß zur manifesten Gesundheitsgefahr werden.

Kritische Schallgrenzen für das Ohr

Selbst die Steinzeit war nicht frei von lauten Geräuschen. Beim Unterqueren eines Wasserfalls, bei einem nahen Donnerschlag, einem Bergrutsch oder Vulkanausbruch, mögen durchaus schon damals Schallpegel auf das Trommelfell geprallt sein, die heutigen Lärmspitzen wenig nachstehen. Die Evolution hat uns ein Ohr geformt, das gelegentliche Krachexzesse wie sie auch in der Natur immer wieder vorkommen, toleriert. Die durch Lärm vorrangig belasteten empfindlichen Hörzellen (Haarzellen) des Innenohrs haben ein hohes Regenrationspotenzial. Vorausgesetzt, ihnen werden ausreichend lange Ruhepausen gegönnt.

Jahrelanges Arbeiten unter Dauerlärm oder Diskobesuche und Rockkonzerte mit stundenlangen Lärmspitzen von 100 Dezibel und mehr sind moderne Umweltbedingungen, denen wir evolutionär nicht gewachsen sind. Die Haarzellen unseres Innenohrs drohen dauerhaft geschädigt zu werden und es entwickelt sich eine so genannte Lärmschwerhörigkeit. Wann immer nach freiwilligen oder unfreiwilligen geräuschvollen Ereignissen die Ohren vorübergehend sausen, klingeln oder die Hörwahrnehmung gedämpft erscheint, haben Sie ihren Ohren eindeutig zuviel zugemutet. Und je öfter Sie das tun, desto höher wächst das Risiko einer dadurch bedingten bleibenden Hörminderung.

Laut arbeitsmedizinischer Fachliteratur besteht bis zu einem Schallpegel von 85 Dezibel für das Ohr üblicherweise keine Gefahr. Ab diesem Wert, wie er etwa von Drehmaschinen, Motorrasenmähern oder einem nahe vorbeifahrenden LKW erzeugt wird, drohen bei langfristiger täglich mehrstündiger Exposition bleibende Hörschäden. Um dem vorzubeugen, schreiben Arbeitsschutzbestimmungen deshalb bei Tätigkeiten, die mit einer Lärmbelastung von über 85 Dezibel einhergehen, das Tragen eines effektiven Hörschutzes vor. Noch wichtiger ist ein solcher Schutz bei Schallpegeln von über 120 Dezibel, wie sie etwa von einem Niethammer (130 Dezibel), einem in unmittelbarer Nähe startenden Düsenflugzeug (140 Dezibel) oder einem Geschützknall (160 Dezibel) erzeugt werden. Hier kann bereits ein einmaliges ungeschütztes Ereignis eine dauerhafte Hörminderung verursachen.

Anders als bei beruflich Lärmexponierten, gibt es gegen Freizeitlärm leider keine ausreichenden gesetzlichen Vorschriften. Das Schadenspotenzial ist aber das Gleiche. Hals-Nasen-Ohren-Arzte raten deshalb auch bei häufigen Besuchen von lauten Diskotheken oder Rockkonzerten zum Ohrenschutz. Individuell angefertigte Ohrstöpsel vom Hörgeräteakustiker haben gegenüber Massenware den Vorteil, die Lautstärke gleichmäßig über alle Frequenzbereiche zu mindern, was den Musikgenuss weniger schmälert. Besser wäre allerdings, wenn Musik gar nicht so laut sein dürfte, dass sie zur Gefahr für die Ohren wird.

Zunehmende alltägliche Lärmverschmutzung

Mit der Industrialisierung und Modernisierung der Welt ging – und geht –  eine stete Lärmzunahme einher. Auch wenn der technische Fortschritt unter dem Diktat strenger gewordener Lärmschutzvorgaben Autos und Flugzeuge immer leiser machen mag, führt die stetig wachsende Zahl dieser Verkehrsmittel dennoch zu einer weiteren Verdichtung der Geräuschkulisse. Gesundes Schlafen bei sommerlich offenen Fenstern, ehedem eine kostenlose selbstverständliche Lebensqualität, ist in unseren Ballungsgebieten kaum noch möglich. Selbst auf dem Land ist nächtliche Stille in der näheren und ferneren Umgebung von Autobahnen und Flugschneisen ohne geschlossene Schallschutzfenster nicht mehr zu haben. Vor allgegenwärtigen Handys, die umtriebige Zeitgenossen nicht nur zum Telefonieren sondern auch zur permanenten Musikberieselung nützen, ist man selbst auf einsamsten Parkbänken und in ehedem stillen Ecken von Liegewiesen nicht mehr sicher.

Zwar haben wir inzwischen Maschinenlärm durch Auslagerung von Produktionsbetrieben in Gewerbegebiete großteils aus dem näheren Wohnumfeld verbannt. Eine wachsende Zahl technisch hoch gerüsteter Hausmeisterdienste sorgt jedoch für lauten Ersatz. Wo ehedem Besen und Rechen mit nahezu meditativen Klängen Gärten und Hinterhöfe sauber hielten, traktieren heute Laubbläser und -sauger Trommelfell und Nerven.

Auch was das Ohr noch wegsteckt, ist oft schon ungesund

Selbst wenn Lärm nur ein Ausmaß erreicht, das für die Ohren noch unbedenklich ist, kann er dennoch zum erheblichen Gesundheitsrisiko werden. Untersuchungen haben gezeigt, dass tagsüber Geräusche ab 65 Dezibel und nachts schon ab 40 Dezibel bei nahezu allen Versuchspersonen zu objektiv messbaren körperlichen Schadreaktionen wie Anstieg von Blutdruck und Stresshormonen im Blut führen. Dabei müssen sich Betroffene von den zugrunde liegenden Testgeräuschen subjektiv noch nicht einmal gestört fühlen. Eine subjektive Störung verschärft allerdings die Lage zusätzlich. Je stärker die individuelle Aversion etwa gegen Straßenlärm ist, desto mehr zerrt Straßenlärm gleicher Intensität an den Nerven.

Wenngleich sich eine kleine Minderheit sogar durch Vogelgezwitscher oder Wellenrauschen gestört fühlen mag, werden solche natürlichen Laute von den meisten Menschen neutral bis positiv aufgenommen. Die uns schon seit vielen hunderttausend Jahren begleitenden Hintergrundgeräusche der Natur werden dank unserer evolutionären Prägung offensichtlich auch heute noch als beruhigend beziehungsweise harmlos wahrgenommen. Viele neuzeitliche Geräusche wirken dagegen zumindest auf der unbewussten Ebene wie akustischen Warnsignale. Sie induzieren in unserem Körper Stressreaktionen, die ehedem zu Kampf oder Flucht rüsteten sollten, heute aber den Blutdruck nur noch sinnlos und auf Dauer krank machend nach oben treiben. Lärmschutzgesetze, die nur die Lautstärke zum Maß aller Dinge machen, werden deshalb der Natur des Menschen nicht gerecht. Für unsere Gesundheit und unser Wohlbefinden kann es doch einen erheblichen Unterschied machen, ob eine nächtliche Schlafzimmerbeschallung von 30 Dezibel durch Blätterrauschen vor dem Fenster oder durch Computerspielgeräusche aus der Nachbarwohnung bedingt ist.

Indirekt können übrigens für das Ohr selbst noch ungefährliche moderate Dauergeräusche dann doch wieder eine Lärmschwerhörigkeit befördern. Denn wer etwa ohne Anstrengung das volle Frequenzspektrum eines Radiokonzertes hören will, dreht den Lautstärkeregler aus einer Position der Stille weit weniger auf als wenn er beispielsweise die Geräusche einer nahen Straße übertönen muss.

Sinnespunkte des Kapitels

  • Die sich üblicherweise schon in jungen Jahren manifestierende Kurzsichtigkeit hat in den letzten Jahrzehnten offensichtlich zugenommen.
  • Heute leidet rund jeder dritte Mitteleuropäer unter diesem Sehfehler, dem mehrheitlich ein zu langes Auge zugrunde liegt.
  • Die Veranlagung zur verschwommenen Fernsicht ist wohl angeboren und weltweit ethnisch ungleich verteilt.
  • Um bei entsprechender Veranlagung tatsächlich kurzsichtig zu werden, bedarf es aber offensichtlich zusätzlicher Faktoren.
  • Nach aktueller Erkenntnis sind dies vor allem neuzeitliche Seh- und Lebensgewohnheiten: Zuviel Naharbeit und zu wenig Aufenthalte im Freien.
  • Um Kurzsichtigkeit vorzubeugen, wird deshalb Kindern und Jugendlichen empfohlen, bei Naharbeiten den Blick mehrmals stündlich in die Ferne schweifen zu lassen und möglichst viel Freizeit fernsichtig unter freiem Himmel zu verbringen.
  • Fast alle häufigen Augenleiden des fortgeschritteneren Alters wie Grauer und Grüner Star oder degenerative Netzhauterkrankungen werden durch schlechte Durchblutungsverhältnisse begünstigt.
  • Ähnliches gilt für die Altersschwerhörigkeit.
  • Risikofaktoren für Durchblutungsstörungen wie Rauchen, Übergewicht, erhöhte Blutfett- und Blutzuckerwerte sowie hoher Blutdruck gefährden damit auch eine gute Sicht und das Gehör.
  • Eine artgerechte Lebensweise mit gesunder, abwechslungsreicher Ernährung und viel Bewegung wirkt bekanntlich diesen Risikofaktore entgegen und kann damit auch unseren Sinnen dienen.
  • Akustische Umweltverschmutzung ist in der Menschheitsgeschichte ein relativ junges Phänomen, das auf Ohren und Nerven schlägt.
  • Um einer Lärmschwerhörigkeit vorzubeugen, sollte bei unvermeidbaren Lärmbelastungen konsequent ein effektiver Hörschutz getragen werden.
  • Lärmschwerhörigkeit ist nicht nur eine berufliche Gefahr. Auch laute Disco- und Konzertbesuche können die Hörfähigkeit vorübergehend bis dauerhaft schmälern.
  • Wer solche Veranstaltungen häufig besucht, sollte dort ebenfalls an einen Hörschutz denken. Vom Hörgeräteakustiker individuell angepasste Ohrstöpsel versprechen, bei gleicher Lautstärkenreduktion den Musikgenuss weniger zu beeinträchtigen als Produkte von der Stange.
  • Die zunehmende Lärmverschmutzung kommt auch unterhalb der Gefahrenschwelle für die Ohren als Stressfaktor und damit als Gesundheitsgefahr infrage.
  • Evolutionär begründbar, werden bei gleichen Dezibelwerten natürliche Geräusche meist deutlich weniger belastend als viele künstliche Schallquellen empfunden. Lärmschutzbestimmungen werden dem bislang leider kaum gerecht.

Kapitel VII: Evolutionstheoretische Gedanken zu Partnerschaft und Sex

Viele Umfragen gleicher Zielrichtung kommen, wenn sie ehrlich sind, zu einem ernüchternden Ergebnis. Mit der sexuellen Zufriedenheit steht es in Deutschland, in anderen westlich geprägten modernen Nationen und wohl oft auch dort, wo sich solche Umfragen noch verbieten, nicht zum Besten. Die Leidenschaft des Anfangs geht schon nach wenigen Jahren nahezu regelhaft verloren. So regelhaft, dass der Verdacht nahe liegen darf, die Ursache des sexuellen Scheiterns klassischer Zweierbeziehungen und möglicher Folgekomplikationen sei möglicherweise in deren Widernatürlichkeit begründet. Ist das propagierte Ideal einer lebenslangen monogamen Zweierbeziehung also womöglich eine kulturelle Zwangseinrichtung, die gegen unsere wahre sexuelle Natur nur so lange Bestand hat, wie harte Sanktionen oder ökonomische Zwänge sie stützen? Wie könnte das wahre, also evolutionär formatierte, genetisch angelegte, natürliche sexuelle Beziehungsmuster des Menschen aussehen? Und warum wäre wohl der Weg zurück zu einem unserer Natur entsprechenden Bindungs- und Sexualverhalten selbst dann verbaut, wenn wir diese Wurzeln wieder entdecken würden? Die Suche in unserer Vergangenheit, wobei wir hier sogar noch weit hinter das Stadium der Jäger und Sammler bis ins Reich unserer äffischen Vorfahren zurück blicken müssen, bietet einige Antworten aber kaum praktikable Lösungen. In diesem Eingeständnis liegt ein gravierender Unterschied zu den zahlreichen Ratgebern gegen Beziehungsfrust, die typischerweise mehr versprechend als sie halten. Aber auch ohne unmittelbare Lösung lässt sich mit einem verstandenen Missstand leichter leben als mit einem unverstandenen. Und vielleicht verstehen Sie Ihre Beziehung, Ihr Verhalten und das Ihres Partners nach Lektüre dieses Kapitels ein klein wenig besser oder anders und können damit ihrem evolutionären Erbe – das einigen gar als Erbsünde erscheinen mag – ein Schnippchen schlagen.

Steigende Scheidungsraten nur Spitze eines Eisberges an Beziehungsfrust

Laut Angaben des Statistischen Bundesamtes wurden 2014 in Deutschland 166.200 Ehen geschieden. Bei im gleichen Jahr geschlossenen 386.134 Ehen ergibt sich damit für 2014 eine bundesdeutsche Scheidungsquote von rund 43 Prozent, was aber keine Aussage über das Scheidungsrisiko eines bestimmten Eheschließungsjahrganges erlaubt. Denn eine so ermittelte Scheidungsquote würde ja auch bei unveränderten Scheidungszahlen sinken, wenn nur die Heiratsziffer steigt oder umgekehrt anwachsen, wenn Hochzeiten plötzlich weniger werden.

Aktuelle aus der bisherigen Entwicklung abgeleitete Rechenmodelle des Statistischen Bundesamtes beziffern das Risiko neu geschlossener Ehen, in den nächsten 25 Jahren wieder geschieden zu werden, auf 35 Prozent. Scheidungszahlen spiegeln allerdings nur die Spitze des Eisberges gescheiterter Beziehungen wieder. Denn nicht wenige Beziehungen gehen schon wieder auseinander, bevor sie überhaupt im dokumentierten Hafen der Ehe angekommen sind. Und selbst eine fortbestehende eheliche oder uneheliche Beziehung bürgt nicht für deren Glück. Zahllose Menschen bleiben trotz zerrütteter Zweisamkeit zusammen. Etwa im vermeintlichen oder echten Interesse der Kinder, weil eine Scheidung das noch nicht abbezahlte Haus kosten würde, weil man Eltern, Schwiegereltern oder gemeinsame Freunde nicht enttäuschen will oder weil man paradoxerweise schlichtweg Angst vor einer Zukunft ohne den überdrüssigen Partner hat.

Schließlich wird in Umfragen selten so viel gelogen wie zum Thema Sex und Partnerschaft. Kaum jemand, aus dessen Ehe sich der Sex schon seit Jahren verabschiedet hat, gibt das offen zu. Seitensprünge und die Ambitionen dazu werden ebenfalls meist verheimlicht. Und selbst dort wo hin und wieder auch nach langen Jahren das Ehebett noch regelmäßig quietscht, wird allzu oft zumindest von einer Seite gute Miene zum langweiligen Spiel gemacht.

Ist man ehrlich und verbucht zudem all jene, die lediglich rational das Beste aus einer an sich als unbefriedigend erlebten Beziehung machen, letztendlich als eine gescheiterte, sind anhaltend bilateral auch sexuell glückliche Beziehungen wohl eher Ausnahme als Regel. Warum könnte das so sein und welche Konsequenzen sollte man daraus ziehen? Unzählige Ratgeber haben hierzu nach Antworten gesucht aber offensichtlich keine wirklich überzeugenden gefunden. Sonst bräuchte es ja nicht nahezu täglich neu erscheinende Ratgeber zum gleichen Problem.

Sexfrust – Henne oder Ei?

Ratgeber aus eher konservativen Ecken werden nicht müde zu betonen, die sexuelle Dimension dürfe für das Gelingen oder Scheitern einer Beziehung keinesfalls überbewertet werden. Sexuelle Unzufriedenheit in einer Beziehung sei mehrheitlich lediglich ein Symptom dafür, dass etwas anderes in der Beziehung nicht mehr stimmt. Besonders gerne wird dabei das Stressargument strapaziert. Wer sich von den täglichen Erfordernissen des Lebens – sei es in Beruf oder Haushalt – zu sehr unter Druck gesetzt fühlt, verliere nachvollziehbar an sexueller Lust. Dem widersprechen jedoch weitgehend übereinstimmende Erfahrungen von Seitenspringern. Eine neue und zunächst geheim zu haltende Liebe macht ja den bisherigen Stress nicht weniger. Die Kinder sind nach wie vor für die Schule fertig zu machen, sie brauchen Nachhilfe und kein Chef bürdet einem weniger Arbeit auf, nur weil er seinen Angestellten eines Seitensprungs verdächtigt. Im Gegenteil. Ein amouröses außerhäusiges Abenteuer erweitert den Stress. Es muss mehr in dem ohnehin knappen Zeitplan untergebracht werden und das soll auch noch niemand merken. Dennoch brennen viele gestresste Seitenspringer – zumindest eine zeitlang – vor lange vergessener Leidenschaft. Diese wenig bestrittene Beobachtung spricht also eher dafür, nachlassende Lustgefühle in einer Beziehung eher als Henne denn als Ei, also eher als Ursache denn als Folge einer gestörten Zweisamkeit zu erachtet.

Und noch ein empirisches Argument verweist in diese Richtung. Zugegebenermaßen mag es Menschen geben, in deren Beziehung der Sex nicht nur aus Altersgründen keine bedeutende Rolle mehr spielt, die aber dennoch harmonisch, liebevoll und zufrieden zusammen leben. Das allein schließt aber keineswegs aus, dass andere Menschen durchaus das Weite aus Beziehungen suchen, weil ihnen der Sex dort nicht mehr genügt. Aber dass sich Menschen aus einer etablierten Zweierbeziehung verabschieden, die sich noch durch eine starke wechselseitige sexuelle Attraktivität auszeichnet, erscheint doch jenseits spezieller destruktiver Ausnahmekonstellationen mehr als unwahrscheinlich. Sex ist seit alters her ein evolutionär bewährter Kitt, der Menschen in Beziehungen zusammen hält. Die entscheidende Frage ist, für wie lange.

Sex – Beziehungskitt mit begrenzter Haftung

Mit der Materie befasste Anthropologen, Evolutionsbiologen und vergleichende Verhaltensforscher schreiben der Sexualität des Menschen zwei wichtige Funktionen zu. Zum einen dient er wie bei allen sich sexuell mehrenden Lebewesen der Fortpflanzung. Zum anderen stabilisiert er Partnerschaften, belohnt sie mit Lustgewinn und hält sie so im Interesse einer zuverlässigeren Aufzucht des Nachwuchses zusammen. Während etwa bei den meisten Säugetieren und Vögeln der Sexualtrieb an bestimmte jahreszeitlich und hormonell gesteuerte Paarungsperioden gebunden ist, entfaltet sich der Sexualtrieb des Menschen weitgehend unabhängig davon. Wir unterliegen in Lustempfinden oder Begehrlichkeit keiner Brunftzeit und weder männlicher noch weiblicher Sexualtrieb erlöschen beziehungsweise pausieren obligat mit der Empfängnis der Frau.

Der sexuelle Kitt, der uns zusätzlich zu kulturellen und ökonomischen Zwängen aneinander bindet, hält jedoch offensichtlich nicht ewig. Dabei tritt diese Brüchigkeit umso stärker zutage, je schwächer die kulturellen und ökonomischen Bindungszwänge werden. In traditionellen Gesellschaften, die Ehebruch mit stärksten Sanktionen bis hin zum Tod bestrafen, sind offenkundiger Ehebruch und Scheidungen rar. Man wagt nicht einmal, daran zu denken. Selbst bei uns waren Scheidungen bis vor wenigen Jahrzehnten selten. Noch 1960 kamen in Deutschland auf 100 Eheschließungen nur elf Scheidungen. 2014 lag dieses Verhältnis wie bereits erwähnt bei 100 zu 43. Der vorläufige Höhepunkt war übrigens schon 2005. Im Verhältnis zu den im gleichen Jahr geschlossenen Ehen kletterte die Scheidungsquote damals auf 52 Prozent.

Während eine Scheidung zu beantragen bis über die Mitte des letzten Jahrhunderts hinaus auch im christlichen Abendland mehrheitlich Männersache waren, haben Frauen infolge von zunehmender wirtschaftlicher Unabhängigkeit und abnehmender Doppelmoral hier erheblich aufgeholt. 2013 wurden laut Statistischem Bundesamt 52 Prozent aller Scheidungen in Deutschland von Frauen eingereicht, 40 Prozent von Männern und acht Prozent gemeinsam.

Wenn nun der zunehmende Wegfall kultureller und ökonomischer Zwänge tatsächlich unsere klassische Zweierbeziehungen früher oder später störende sexuelle Natur wieder stärker zum Vorschein bringen sollte: wie könnte die aussehen.

Ererbte sexuelle Beziehungsmuster

Als Antwort auf die Frage, für welche sexuellen Beziehungsmuster uns die Evolution vorprogrammiert haben könnte, werden von damit befassten Wissenschaftlern vorrangig zwei Thesen angeboten: Zum einen die von der serielle Monogamie, in der nach einigen Jahren zumindest für einen Partner die sexuelle Attraktivität des anderen verloren geht. Eine andere Fraktion strapaziert die vergleichende Verhaltensforschung und findet dabei Argumente, warum wir womöglich die promiskuitivsten aller Affen und von Natur aus deshalb eigentlich nicht für eine lebenslange Zweierbeziehung geschaffen sind.

Serielle Monogamie

Mit „serieller Monogamie“ bezeichnen Soziologen eine Aufeinanderfolge von zeitlich begrenzten monogamen Paarbeziehungen. Sie ist die heute vor allem bei Jugendlichen und jungen Erwachsenen häufigste Beziehungsform. Man lernt sich kennen, bleibt ein paar Wochen, Monate oder gar Jahre weitgehend treu zusammen um sich wieder zu trennen und eine neue, ebenfalls zeitlich begrenzte Zweierbeziehung einzugehen. Die Phase der seriellen Monogamie, die man eigentlich auch mit dem Motto „drum prüfe, wer sich ewig bindet“, umschreiben könnte, endet für manche mit einer Heirat und/oder der Geburt eines Kindes, für eine zunehmende Zahl dagegen viel später oder nie. Warum das so ist, ist für so manchen Soziobiologen klar.

Soziobiologen – man nennt sie heute oft auch Evolutionspsychologen – sind Wissenschaftler, für die sich auch menschliches Verhalten vorrangig durch ein ursprüngliches Motiv erklärt. Alles Wollen und Streben sei bewusst und unbewusst darauf ausgerichtet, eigene Gene zu maximieren. Für Männer hieße das, mit möglichst vielen Frauen Sex zu haben. Frauen täten dagegen wenig für ihre Genmaximierung, wenn sie Sex mit möglichst vielen Männern hätten. Schwanger werden können sie maximal einmal in neun Monaten, und dafür reicht ein Mann aus. Für die Genmaximierungsstrategie von Frauen sei vielmehr wichtig, den einen möglichst fitten Mann als Aufzuchthelfer des gemeinsamen Nachwuchses möglichst lange an sich zu binden.

Im Konflikt männlicher und weiblicher Genmaximierungsinteressen hätte sich in der Evolution die befristete Zweierbeziehung als produktivster Kompromiss heraus gebildet. Der sexuelle Kitt, der Urmann und -frau aneinander band, hielt deshalb gerade mal so lange, bis das gemeinsame Kind aus dem Gröbsten raus und abgestillt war. Unsere Vorfahren dürften, wie heute noch ursprünglich lebende Naturvölker, drei bis fünf Jahre gestillt haben. In dieser Zeit verhinderte die empfängnisverhütende Potenz des Stillens oft weiteren Nachwuchs und machte den Bindungssex folgenlos. Nach der Stillperiode hätten sich Adam und Eva neu orientiert und wiederholten das Gleiche mit neuen Partnern. Dieses in ferner Vergangenheit genetisch programmierte Erbe dränge uns auch heute noch zur seriellen Monogamie, die man infolge der schwächer werdenden kulturellen Konventionsschranken tatsächlich immer häufiger beobachten könne.

Der soziobiologische Zirkelschluss

So plausibel diese in solcher oder ähnlicher Form immer wieder postulierte Theorie auf den ersten Blick anmuten mag, fußt sie dennoch auf einem fragwürdigen Zirkelschluss, an dem so manche soziobiologische These krankt. Ausgehend von einem aktuell zu beobachtenden Zustand wird ein passendes Muster für die Vergangenheit gestrickt, mit dem man dann begründet, warum die Gegenwart so ist wie sie ist. Dabei darf dann oft ein Quäntchen Ideologie nicht fehlen. Denn ob Frauen biologisch tatsächlich mehr auf Monogamie programmiert sind als Männer, ist angesichts der starken kulturellen Überformung menschlichen Verhaltens anhand der Analyse menschlicher Beziehungsstrukturen nur schwer bis nicht zu ermitteln. Zweifellos sind in vielen traditionellen Gesellschaften – und waren bis vor kurzem auch bei uns – sexuelle Seitensprünge von Frauen weit stärker sanktioniert als ein gleiches Verhalten von Männern. Das hatte und hat nicht zuletzt viel damit zu tun, dass sich Männer ihrer Vaterschaft nie sicher sein konnten. Um dennoch das Risiko zu minimieren, ein Kuckucksei großzuziehen und dem womöglich noch den eigenen Besitz zu vererben, wurde und wird in patriarchalischen Gesellschaftssystemen höchster Wert auf eheliche Treue sowie voreheliche Jungfernschaft der Frau gelegt. Und die Verlockung zum Seitensprung ist nachvollziehbar klein, wenn als Konsequenz die Steinigung oder auch nur eine schwere gesellschaftliche Ächtung droht. Mit der zunehmenden Liberalisierung von Gesellschaften wird allerdings deutlich, dass Frauen Seitensprüngen und anderen Ausbrüchen aus monogamen Verhältnissen nicht weniger abgeneigt sind als Männer. Inzwischen geben sie das sogar immer offener zu. Dabei hätte man sich schon länger fragen müssen, mit wem das angebliche Überangebot an männlichen Seitenspringern eigentlich zu Seite sprang.

Der promiskuitivste aller Affen?

Um die wahre biologische Wurzel menschlichen Sexual- und Beziehungsverhaltens zu ergründen, muss man deshalb wohl bis zu Zeiten zurück schauen, in denen es noch keine kulturelle Überformung gab. Und hier schlägt die Stunde der vergleichenden Verhaltensforschung (Ethologie). Ethologische Primatenforscher, also Verhaltenswissenschaftler, die sich mit Affen einschließlich des Menschen beschäftigen, wollen herausgefunden haben, dass es bei Affen einen Zusammenhang zwischen der Größe von Penis, Hoden sowie dem Ejakulatvolumen und dem vorherrschenden Paarungs- beziehungsweise sexuellen Bindungsverhalten gibt. Arten, bei denen das körperlich stärkste Männchen einen Harem um sich schart, wie etwa Gorillas, sind genital eher schwach bestückt. Auch streng monogam lebende Spezies wie Gibbons haben bei der evolutionären Verteilung der Genitaliengröße offensichtlich nicht besonders laut „hier!“ gerufen. Dagegen zeichnen sich Gemeine Schimpansen und die eng mit ihnen verwandten Bonobos (Zwergschimpansen) durch eine vergleichsweise imposante männliche Genitalausstattung aus. Interessanterweise kommt bei diesen beiden Arten nicht bevorzugt das körperlich stärkste Männchen sexuell zum Zug sondern es geht bei ihnen, bei den Bonobos noch mehr als bei den großen Schimpansen, sexuell drunter und drüber. Sie regeln einen großen Teil ihrer sozialen Interaktionen sexuell. Die Gruppe frönt dabei gewissermaßen dem Gruppensex, der weder durch männliche noch weibliche Dominanz wesentlich behindert wird.

Spermienkonkurrenz

Wo es sexuell ohne hierarchische Zugangsbeschränkungen lang geht, spielt die Körperkraft für das innerartliche „Survival of the Fittest“ eine nachrangige bis keine Rolle. Entscheidender ist hier die Spermienkonkurrenz. Den größten Fortpflanzungserfolg haben die Männchen, deren Spermien nach dem Gruppensex als erste die Eizelle erreichen. Und die Wahrscheinlichkeit dafür steigt zum einen mit der Zahl der Spermien, die ins Rennen geschickt werden und zum anderen mit der Fähigkeit, das eigene Ejakulat möglichst zielnah zu platzieren. Demnach dürfte die natürliche Selektion unter solchen Voraussetzungen Individuen begünstigt haben, die möglichst viele Spermien produzieren, also leistungsstarke, große Hoden hatten und/oder die ihren Mitbewerbern etwas an Penislänge voraus waren. Wenn also große Hoden und langer Penis so gesehen Resultat eines sowohl von männlicher wie weiblicher Seite ausgeübten promiskuitiven Sexualverhaltens sind, sollte die Tatsache zu denken geben, dass der Mensch bezüglich der relativen Größe seiner männlichen Genitalien im Primatenreich in der ersten Liga mitspielt. Dies verweist auf eine eher promiskuitive sexuelle Natur des Menschen, die Männern wie Frauen gleichermaßen angeboren ist und die sie gewissermaßen zu Gruppensex in der Gruppenehe prädestiniert.

Der Natur-Kultur-Konflikt

Doch was sollte man mit dieser Erkenntnis, wenn sie denn überhaupt zutreffend ist, anfangen? Die bonobohafte Gruppenehe propagieren? In besitzlosen Urhorden, die in einer mehr oder weniger unwirtlichen Wildnis weiträumig verteilt waren und in denen alle Mitglieder dem gleichen Ziel verpflichtet waren, nämlich als Gruppe sowie als Individuum im Schutz dieser Gruppe bestmöglichen zu überleben, mag eine solche sexuelle Beziehungsstruktur tatsächlich ideal gewesen sein. Sie bot wenig Anlass zu gruppenzerfleischender neidvoller Eifersucht, jeder und jede kamen auf  ihre sexuellen Kosten, alle Kinder waren allen gemeinsam. Doch wie sollte so etwas heute funktionieren? Das würde doch schon allein an der fehlenden Homogenität und Exklusivität infrage kommender Gruppen scheitern. Gruppensex als Bindungsfaktor mit den Arbeitskollegen, in der Tennisabteilung oder im Elternbeirat? Wer übernimmt die Elternrolle und wer beerbt wen? Unvorstellbar.

Nicht weniger bedeutsam als solche strukturellen Hürden ist, dass der Mensch Kraft seines Geistes seine angeborene Natur bis zu deren Unkenntlichkeit kulturell überformen kann. Nicht nur seine angeborenen rudimentären Instinkte und Bedürfnisse sondern vor allem auch seine kulturspezifische Sozialisation mit den dabei vermittelten Werten und Idealen bestimmen sein Wollen und Streben. Selbst wenn uns in einer zunehmend liberalen Welt weder Steinigung noch andere ernste Sanktionen beim Ausbruch aus einer unglücklich gewordenen Partnerschaft drohen, hängen wir dennoch dem internalisierten anerzogenen Ideal einer trauten Zweisamkeit nach. Würden wir tatsächlich unsere evolutionär angestammte sexuelle Natur finden und versuchen, sie zu leben, wäre ein erheblicher Konflikt mit unseren in der Sozialisation angeeigneten kulturellen Vorstellungen von Partnerschaft und Sexualität vorprogrammiert. Umgekehrt tun wir uns aber schwer, dieses kulturelle Ideal zu leben, wenn es unserer Natur doch allzu sehr widerspricht. Wir befinden uns in einem gewissermaßen unlösbaren Natur-Kultur-Konflikt, aus dem wir versuchen müssen, das für uns Beste zu machen. Dazu später noch ein bisschen mehr.

Warum sich aber unsere kulturelle sexuelle Überformung überhaupt soweit von einer möglichen natürlichen Vorgabe entfernt hat, dass sie mit dieser in Konflikt gerät, ist eine Frage, deren Beantwortung bereits am Ende von Kapitel I kurz angedacht wurde. Scrollen Sie bei Interesse bitte zurück!

Der Pillenk(n)ick

Einige evolutionstheoretisch motivierte Wissenschaftler geben auch der Antibaby-Pille eine Mitschuld, dass es in der sexuellen Beziehung zwischen den Geschlechtern oft nicht mehr so recht klappt. Dabei war die Intention der ab 1960 verfügbaren und bis heute zuverlässigsten Klasse von Empfängnisverhütungsmitteln eine ganz andere. Erstmals bestand die Möglichkeit, sexuelle Freuden weitgehend ohne Angst vor einer ungewollten Schwangerschaft zu genießen. Viele Soziologen und Psychologen sind überzeugt, dass die Pille maßgeblich zu den gesellschaftlichen Umwälzungen in der zweiten Hälfte des letzten Jahrhunderts beitrug. Sie war eine wichtige Voraussetzung für die sexuelle Liberalisierung und auch für die zunehmende Gleichstellung der Geschlechter in Partnerschaft und Beruf.

Doch die Pille hatte und hat – trotz immer besserer Feinjustierung ihrer Hormone – auch ihre Schattenseiten. Zusätzlich zu medizinischen Nebenwirkungen wie Anstieg des Thromboserisikos, leicht erhöhtes Risiko für einige Krebserkrankungen, Depressionsneigung, Kopfschmerzen und Gewichtszunahme, kann die Pille trotz ihrer von Schwangerschaftsängsten befreienden Wirkung auch die sexuelle Lust dämpfen.

Unterdrückter Eisprung = unterdrückte Megalust

Wirkstoffe der Pille sind natürliche oder künstliche weibliche Hormone, die so dosiert und komponiert sind, dass sie den weiblichen Eisprung, also das Heranreifen und Freisetzen einer befruchtungsfähigen Eizelle, unterbinden. Bei korrekter Einnahme fallen damit die monatlichen vier bis sechs fruchtbaren Tage einer Frau aus. Gerade in diesen fruchtbaren Tagen ist die sexuelle Lust vieler Frauen aber  am größten, was aus entwicklungsbiologischer Sicht wenig überrascht. Denn jenseits romantisierender Vorstellungen hat uns die Evolution die Lust primär als Mittel zum Zweck gegeben, die Fortpflanzung anzuregen. Die chemohormonelle Ausschaltung der heißesten Tage im Leben einer Frau dämpft die Lust aber möglicherweise nicht nur an diesen Tagen sondern durch den Wegfall von psychologischen Vorhall- und Nachklingeffekten nachvollziehbar über deutlich weitere Strecken oder gar den gesamten Verlauf des Zyklus. Die potenziell lustfördernde Befreiung von der Angst vor Schwangerschaften durch die Pille muss also womöglich mit einer hormonell gebremsten Lust bezahlt werden, wobei diese Kosten nicht für jede Frau gleich hoch sind. Frauen, die den Verdacht haben, ihre Pille oder sonstige hormonelle Kontrazeption könnte (mit)schuldig an ihren Unlustgefühlen sein und die oder deren Beziehungen unter dieser Unlust leiden, sollten einen mehrmonatigen Auslassversuch unternehmen oder zumindest das Präparat wechseln. Denn auch bezüglich Libidodämpfung wirkt nicht jede Pille bei jeder Frau gleich.

Dauerhafte Luststörung durch Pilleneinnahme?

Wer nun hofft, eine pilleninduzierte Unlust würde sich spätesten dann wieder vollständig legen, wenn der Ovulationshemmer abgesetzt wird, hat die Rechnung allerdings womöglich ohne einer 2005 veröffentlichte Studie des renommierten Bostoner Sexualwissenschaftlers Irwin Goldstein gemacht. Schon vorher war bekannt, dass eine hormonelle Kontrazeption die Spiegel des so genannten sexualhormonbindenden Globulins (SHBG) im Blut der Frau bis über das Fünffache hinaus ansteigen lassen kann. SHBG ist ein Speicher- und Transporteiweiß für Sexualhormone einschließlich Testosteron. Testosteron ist kein exklusiv männliches Hormon. In deutlich geringeren Konzentrationen zirkuliert es auch im Blut von Frauen und ist in freier Form maßgeblich an deren Libidoausprägung beteiligt. Bei zu hohen SHBG-Spiegeln bleibt zuviel Testosteron an dieses Eiweiß gebunden. Die Spiegel des freien, biologisch aktiven Testosterons sinken und damit oft auch der frauliche Sexualtrieb. Während man bis Goldsteins Untersuchungen dachte, dass sich die unter Pilleneinfluss zu hohen SHBG-Spiegel und die davon abhängig zu niedrigen Testosteronspiegel nach Absetzen der Pille rasch wieder normalisieren, alarmierten die Bostoner Ergebnisse zu gegenteiligen Aussagen. Zumindest bei einem Teil der Pillenkonsumentinnen könne der SHBG-Spiegel noch jahre- und womöglich sogar lebenslang Lust mindernd erhöht sein.

Den kann ich gut riechen – auch eine Frage der Pille

Neurobiologen haben in den letzten Jahrzehnten Befunde gesammelt, die dafür sprechen, dass der Geruch bei der Partnerwahl eine nicht unerhebliche Rolle spielt. Der Volksmund wusste das scheinbar schon länger. Zumindest hatte der seit jeher Aussagen zum Sympathielevel wie „die Chemie muss stimmen“ oder „den kann ich nicht riechen“ im Repertoire. Dabei sollen es laut wissenschaftlicher Erkenntnis weniger bewusst als vielmehr unbewusst wahrgenommenen Geruchskomponenten sein, die Romeo und Julia attraktiv füreinander machen. Nicht schwangere Frauen sollen sich, und das noch verstärkt an den fruchtbaren Tagen, zu Männern hingezogen fühlen, deren unbewusst wahrgenommener Geruch eine Genkonstellation verrät, die möglichst wenig mit der ihren übereinstimmt. Auch hierzu hatte der Volksmund schon lange ein Sprichwort parat: Gegensätze ziehen sich an. Was der Volksmund noch nicht wusste, erklären uns jetzt die Wissenschaftler.  Gegensätze ziehen sich offensichtlich deshalb an, weil in deren Nachwuchs die Gene möglichst breit gemischt sind, was unter anderem für ein besonders leistungsstarkes Immunsystem bürgt. Und das ist eine gute Voraussetzung für das weitere Überleben dieser Nachkommenslinie.

Bemerkenswert ist nun, dass die geruchliche Präferenz von Frauen, die schwanger sind, eine andere ist. Sie sind eher Männern zugetan, die nach gemeinsamen Genen riechen. Aus soziobiologischer Sicht wird hier ebenfalls ein gut nachvollziehbares evolutionär bewährtes Programm aktiv. Denn je mehr Gene eine bereits geschwängerte aber verwitwete oder verlassene Frau mit dem potenziellen Ersatzvater teilt, desto mehr Gene teilt der über sie auch mit dem Kuckucksei. Das aufzuziehen sei er damit eher bereit als jemand, der mit dem fremden Nachwuchs genetisch wenig gemeinsam hat.

Doch was hat die Pille mit dem Ganzen zu tun? Da die durch die Pille bewirkten hormonellen Veränderungen im Körper einer Frau gewissermaßen eine Schwangerschaft vortäuschen, röchen und wählten Frauen mit Pille lieber andere Männer als Frauen ohne Pille. Frauen, die sich ihren Mann aussuchen, während sie die Pille einnehmen, könnten den, dieser Theorie zufolge, nicht mehr ganz stimmig finden, sobald sie die Pille absetzen. Umgekehrt mag es ähnlich sein.

Um nicht die ganze Wahrheit zu verschweigen sei eingeräumt, dass die diesen Ausführungen zugrunde liegenden Experimente mit Frauen gemacht wurden, die an von verschiedenen Männern getragenen T-Shirts schnuppern sollten und dann ankreuzen mussten, welches T-Shirt für sie am anziehendsten roch. Vielleicht wäre das Ergebnis ja ganz anders ausgefallen, wenn die weiblichen Versuchspersonen die verschiedenen Männer nicht nur gerochen sondern auch gesehen und vor allem gesprochen hätten.

Das Gleiche noch mal, nur ein bisschen anders

Ähnliche Studien, bei denen Frauen nicht nur riechen sondern auch Fotos verschiedener Männer anschauen durften, verweisen ebenfalls auf eine hormonell gelenkte Partnerwahl, die durch die Pille verfälscht werden könnte und dann womöglich in beschleunigter Enttäuschung endet. Ergebnis der hier zugrunde gelegten Experimente war, dass nicht schwangere Frauen besonders an ihren fruchtbaren Tagen eher eine Schwäche für maskuline, kraftstrotzende Testosteronbomben zeigen. Sie folgten, so die soziobiologische Interpretation, damit ebenfalls einem unbewussten, evolutionär in alter Zeit erworbenen genetischen Programm, das für möglichst gesunden, starken und durchsetzungsfähigen Nachwuchs bürgte. Leider war der attraktive Testosteronstrotz schon immer oft ein rechter Hallodri, der sich seiner Anziehungskraft auf viele Frauen bewusst und deshalb wenig geneigt war, bei einer zu bleiben. Bereits geschwängert, war und ist deshalb im Wunschbild von Frauen eher der fürsorgliche Softi gefragt. Da, wie inzwischen bekannt, die Pille eine Schwangerschaft vortäuscht, drohten in einer bereits bestehenden Partnerschaft dem Softi Minuspunkte beim Absetzen und dem harten Kerls beim Neubeginn einer hormonellen Empfängnisverhütung.

Was heißt hier Liebe?

Um dem Vorwurf zu begegnen, ein Kapitel über Sex und Partnerschaft fast ohne den Begriff Liebe geschrieben zu haben, ein paar Worte auch dazu. Aus evolutionsbiologischer Sicht ist Liebe lediglich eine menschenspezifische Fortentwicklung eines bereits bei vielen Tieren angelegten Sexual- beziehungsweise Fortpflanzungstriebes und Brutpflegetriebes. Dabei ist die Liebe oder besser Verliebtheit des Anfangs wohl stärker durch sexuelle Begehrlichkeiten bedingt als viele wahrhaben wollen. Werden die Schmetterlinge im Bauch zunehmend flügellahm und bleiben die Partner aber dennoch in liebevoller Zuneigung verbunden, haben sie es womöglich geschafft, Elemente des stabileren Brutpflegetrieb auf ihre Partnerschaft zu übertragen.

Trotz oder gerade aufgrund ihrer starken, überlebenswichtigen biologischen Wurzel, wurden die verschiedenen Facetten der Liebe zu einer maßgeblichen Triebfeder menschlicher Kulturentwicklungen. Im Namen der Liebe wurden und werden Kunstwerke geschaffen, Hits komponiert, Prachtbauten gebaut aber auch Kriege geführt, Morde und Selbstmorde begangen.

Eine auch nach dem naturgemäßen Abflauen der sexuellen Leidenschaft fortbestehende liebe- und respektvolle Beziehung könnte beste Voraussetzungen bieten, gemeinsam ein paar Strategien zu versuchen, dieses Abflauen zu revidieren.

Mehr Durchblick durch den Rückblick – Freispruch für den Partner und andere Konsequenzen

Auch wenn zu den evolutionären Wurzeln menschlichen Beziehungs- und Sexualverhaltens noch so manche Frage offen sein mag, spricht gemäß dem bisher Gelesenen einiges dafür, dass die oft rasche Ermüdung sexueller Leidenschaften in modernen Beziehungen in der Natur der Sache liegt. Entgegen den Wunschvorstellungen von Kirche, anderen gesellschaftlichen Institutionen und auch entgegen eigener internalisierter Ideale, sind wir evolutionsanthropologischen Erkenntnissen zufolge offensichtlich nicht für eine lebenslange leidenschaftliche Zweisamkeit konzipiert. Wer das zugesteht oder zumindest einräumt, befreit seine bestehende und sexuell nicht mehr zufrieden stellende Beziehung bereits von der großen Last gegenseitiger Schuldzuweisung. Der Verdacht, mit dem nächsten  Partner könnte es im Bett länger besser laufen, ist meist ein unbegründeter. Wir bekommen vielleicht mit dem Reiz des Neuen zwei, drei weitere leidenschaftliche Jahre, müssen uns das aber mit nicht unerheblichen emotionalen und materiellen Kosten für uns und unsere etwaigen Kinder erkaufen. Wer diesen Kauf bewusst eingeht und vielleicht sogar die fortgesetzte serielle Monogamie zu seiner erklärten Lebensphilosophie macht – in Ordnung. Aber niemand sollte sich der Illusion hingeben, beim nächsten Mann oder der nächsten Frau wird alles anders.

Gemeinsam gegen unser evolutionäres Erbe

Liebe, oder nennen wir es hier besser leidenschaftliche Begierde, kann bekanntlich blind machen. Blind auch für alle Defizite des neu begehrten Menschen. Eine Beziehung, deren Start exklusiv auf einer wechselseitigen oder auch nur einseitigen sexuellen Begehrlichkeit beruhte und die es nicht geschafft hat, in der Phase der von Glückshormonen rosarot gefärbten Brille andere Vorzüge und Gemeinsamkeiten zu entdecken und zu entwickeln, hat wahrscheinlich wirklich nichts mehr zu bieten, sobald der erotische Sturm des Anfangs verebbt. Aber eine Beziehung, in der vieles passt nur deshalb infrage zu stellen, weil sich Eros klein macht, ist nicht unbedingt eine Entscheidung erster Wahl. Eros wird sich früher oder später mit großer Wahrscheinlichkeit auch in der nächsten Beziehung wieder klein machen. Weniger sicher ist, ob der gute Rest der jetzigen Beziehung auch in der nächsten gewährleistet sein wird. Vielleicht sollte man erst einmal versuchen, sich gegen das hier unterstellte biologische Erbe zu verbünden, es gemeinsam – oder auch mal im Alleingang – auszutricksen. Und zwar mit seinen eigenen Mitteln.

Eifersuchtsspiele – heiße Dusche für erkaltete Gefühle

Es ist eine altbekannte Tatsache, dass verloren geglaubte Gefühle oft wieder aufflammen, sobald sich der/die sexuell zunehmend uninteressant Gewordene anderen zuwendet beziehungsweise andere sich den Verschmähten zuwenden. Konkurrenz belebt das Geschäft offensichtlich nicht nur im Geschäftsleben. Die Wiedererweckung sexueller Begehrlichkeiten durch Eifersucht ist ein altes biologisches Programm, das es bereits im Tierreich gibt. Als etwa in Schweinezuchtbetrieben der prämierte Alphaeber nicht wie heute üblich in ein Reagenzglas ejakulieren musste sondern noch selbst auf die Sau steigen durfte, wurde er dieser Tätigkeit oft eher müde als es dem Züchter lieb war. Allein das in die Nähe bringen eines anderen Ebers genügte dann, den Premiumkeiler wieder gierig auf die nächste Begattung zu machen.

Wer darauf wartet, bis sich eine Eifersucht erregende Situation von selbst ergibt, wartet oft vergebens und manchmal auch zu lange. Betritt nämlich in einer erkalteten Beziehung tatsächlich eine echte Konkurrenz plötzlich und unerwartet die Bühne, kann es für die Rettung der bestehenden Beziehung schnell zu spät sein. Besser ist, die Eifersucht spielerisch, reversibel und deshalb in beiderseitigem Einvernehmen zu befeuern. Wie, hängt ab von der Toleranz und Abgebrühtheit der Akteure. Der Swingerclub ist eine Ultima Ratio mit beschränkter Haftung, der wohl für die meisten nicht infrage kommt. Zumindest nicht am Anfang. Aber vielleicht fragen Sie Ihren Partner mal,

  • ob es ihn/sie anturnen würde, ein paar Ihrer Fremdgehphantasien zu hören. Wenn ja, erzählen sie sie ihm/ihr. Wenn sie keine haben, erfinden Sie welche.
  • Oder erzählen Sie echte beziehungsweise glaubwürdig erfundene erotische Geschichten aus Ihren früheren Sexleben. Vorausgesetzt sie wollen gehört werden.
  • Melden Sie sich getrennt und ohne sich als Paar erkennen zu geben bei einem Massageseminar an. Lassen Sie auf sich wirken wie es ist, wenn jemand Fremdes Ihren Partner massiert, körperlich berührt.
  • Besuchen Sie mit Ihrem Partner zeitlich leicht versetzt eine Bar, so dass Sie für die Umwelt wieder nicht als Paar zu erkennen sind. Beobachten Sie die möglicherweise begehrlichen Blicke oder gar verbalen Kontaktversuche, die andere Ihrem für Sie langweilig gewordenen Partner entgegen bringen. Irgendwann im Verlauf des Abends können Sie ja so tun, als ob Sie sich gegenseitig gerade zum ersten Mal sehen und sich anbaggern um dann gemeinsam nach Hause zu gehen.
  • Melden Sie sich beide getrennt, also wieder ohne sich als Paar erkennen zu geben, bei einem Speed-Dating an. Entsprechende Veranstaltungen gibt es in jeder größeren Stadt. Googeln Sie z.B. „Speed-Dating München“. Da Sie nicht wirklich einen neuen Kontakt suchen, mag das gegenüber den anderen Speed-Datern etwas unfair erscheinen. Aber erstens wissen die ja nix davon und zweitens sind noch genug andere, echte Kandidaten da.

Wenn Sie gern mal solche Eifersuchtsspielchen versuchen würden aber Ihr/e Partner/in (noch) nicht dafür zu haben ist, versuchen Sie im Alleingang bei Ihrem Partner Leidenschaft anfachende Eifersuchtsgefühle zu erwecken.

  • Gehen Sie hin und wieder alleine aus.
  • Gebrauchen Sie einen neuen Duft oder ein neues Rasierwasser.
  • Lassen Sie „versehentlich“ zwischen Ihren Utensilien eine Kondompackung herum liegen. Führt das zu nicht vorhergesehenen Komplikationen bis hin zu ernst zu nehmenden Scheidungsandrohungen, zeigen Sie dem/der konsternierten Partner/in diese Buchseite: „Ist ja alles nicht echt.“
  • Diesen Notausknopf könnten Sie übrigens auch drücken, wenn Sie nicht bei einem vorgespielten sondern einem echten Seitensprungvorhaben ertappt werden. Aber schwärzen Sie dann biete vorher diesen Spiegelpunkt.

Reset für den einseitig eingeschlafenen Sex

Oft noch schlimmer als bilateral lau gewordene Gefühle wird von beiden Seiten erlebt, wenn in einer Beziehung nur ein Partner sexmüde geworden ist. Dies führt dann seltsamerweise oft dazu, dass beim anderen die Leidenschaft warm gehalten wird. Offensichtlich bleibt der/die durch die sexuelle Ablehnung gewissermaßen in der Werbephase konserviert. Ein ungleich verteiltes sexuelles Bedürfnis ist allerdings eine explosive Mischung, die viele Beziehungen früher oder später zerreißt. Der/die Zurückgewiesene wird durch ständige Zurückweisungen frustriert, was aber paradoxerweise die Lust auf den/die Zurückweisende/n eher anheizt als abschwächt. Der/die fühlt sich wiederum umso mehr bedrängt, was dessen/deren Lust immer weiter schmälert. In diesem Teufelskreis kommt man eigentlich nicht mehr befriedigend zusammen.

Wie Hungernden zum Fasten raten

Viele Ratgeber empfehlen in einer solchen Situation, der/die noch Lusthabende möge sich eine zeitlang zurück nehmen. Vom ständigen Bedrängnisdruck befreit, könnten dann bei der/dem Anderen auch wieder Lustgefühle keimen. Den Sexhungrigen wird also Sexfasten angeraten und es ist äußerst zweifelhaft, ob am Ende des Fastens der Lohn der Sättigung steht.

Es mag ja tatsächlich sein, dass beispielsweise eine Frau, die jeden Abend von den Verführungsversuchen ihres Gatten belästigt wird bis dieser angesichts unverhohlenen Unwollens für heute aufgibt, stutzig wird, wenn er dieses Trauerspiel eines Abends plötzlich nicht mehr startet. Und hält er es auch noch eine zweite Nacht durch, sein Wollen zu verbergen, wecken Unruhe und Neugierde angesichts der ungewohnten Situation vielleicht wirklich ganz kurz die Lust der Unlustigen. Dieses fragile Lustfünkchen wird aber in der Regel rasch verglühen, sobald der Spieler schnell wieder in gewohnter Begehrlichkeit am testweise ausgeworfenen Haken zappelt. Das nächste Mal muss er schon eine Woche Interesselosigkeit heucheln, bis sich der flüchtige Erfolg wiederholen lässt. Für jedes weitere Mal noch länger und man ist schnell wieder da, wo man war, bevor man dem zugrunde liegenden schwachen Rat folgte.

Warum nicht mal andersrum?

Nein, die Lösung kann eher eine andere sein. Unlustige/r und Lustige/r müssen sich darauf einigen, so lange jeden Tag miteinander Sex zu haben, bis das keiner von beiden mehr will. Im schlimmsten Fall ist man sich dann erstmals einig im Wunsch nach Abstinenz, was immer noch besser ist, als wenn nur einer/r auf dem Schlauch zu stehen hat. Oft wird aber die neue Erfahrung einer echten Unlust des/der ehemals Lustigen ungeahntes sexuelles Interesse bei dem/der ehemals Unlustigen hervorrufen. Das geht manchmal schneller, als man es sich vorher vorstellen kann.

Möglicherweise ist es aber sogar die unbewusste Angst vor einem solchen Positionswechsel, die viele Unlustige davon abhält, sich auf dieses Experiment einzulassen. Denn wer in einer Beziehung den Sex weniger vermisst als der andere, hat einen Machtvorteil. Ok, Du darfst jetzt mal/ich mach jetzt mal, aber dafür… Das ist doch unwürdig und befriedigt auf Dauer niemand.

Der Positionswechsel kann bei der hier propagierten Strategie tatsächlich eintreten. Aber was ist schon schlimm daran. Das Sexleben ist aufgrund der jetzt getauschten Rollen wieder ein bisschen spannender weil anders herum. Und vielleicht finden im weiteren Verlauf ja jetzt beide zu einer bilateral zufrieden stellenden Frequenz. Falls aber tatsächlich der/die ehemals Bedrängte zum/r frustran Bedrängenden werden sollte, kann man mit der gleichen Strategie schnell wieder Gleichklang oder Umkehr schaffen. Das kann unendlich oft gehen. Man muss es nur wagen.

Sollte dieses Unterfangen dazu führen, dass irgendwann beide keine Lust mehr aufeinander haben und wird dieser Umstand misslich empfunden, wäre man womöglich reif für die weiter oben propagierten Eifersuchtsspiele.

Es soll abschließend nicht verschwiegen werden, dass weder die Strategie der Eifersuchtsspiele noch die des Resets für den Sex bislang in einer kontrollierten Studie geprüft wurden. Zumindest sind dem Autor dieser Zeilen keine solchen Studien bekannt. Sie haben damit aber die Chance, Akteure in einer ersten diesbezüglichen Anwendungsbeobachtung zu werden. Probieren Sie es aus und schicken Sie uns eine E-Mail ob und inwieweit es geklappt hat oder vergeblich war. Genügend Rücklauf vorausgesetzt, werden wir anonymisiert darüber berichten. Danke im Voraus.

Quickie-Durchlauf des Kapitels

  • Hohe Scheidungs- und Trennungsraten in modernen Beziehungen erlauben den Verdacht, eine lebenslange Zweisamkeit widerspreche unserer Natur.
  • Sex ist ein Beziehungskitt mit begrenzter Haltbarkeit.
  • Die Antwort auf die Frage nach dem Warum verorten Evolutionsbiologen in unserer Vergangenheit.
  • Auf der Suche nach angestammten Beziehungsmustern finden sie Hinweise, die die These von der „Seriellen Monogamie“ stützen. Alle drei bis fünf Jahre sei der Mensch von Natur aus reif für eine neue Partnerschaft.
  • Der vergleichende Blick zu unseren nächsten Verwandten, den Schimpansen, legt dagegen die Vermutung nahe, Männer wie Frauen könnten evolutionär eine Schwäche für promiskuitiven Sex in der Gruppe mitbringen.
  • Selbst wenn sie tatsächlich bestünden, wäre eine Rückkehr zu solchen biologischen Wurzeln unseres Beziehungs- und Sexualverhaltens inzwischen wohl kulturell verbaut.
  • Der Gebrauch der Pille oder anderer hormonell empfängnisverhütender Ovulationshemmer täuscht eine Schwangerschaft vor, was die biologische Steuerung der Partnerwahl verfälschen kann.
  • Pille & Co. könnten damit nicht zuletzt das nahezu gesetzmäßige Schwinden sexueller Leidenschaft in Beziehungen beschleunigen beziehungsweise bereits auf einem niedrigeren Level starten lassen.
  • Wer einräumt, dass die schwindende Leidenschaft in der eigenen Beziehung weniger dem Partner als vielmehr unserem naturgegebenen Erbe anzulasten ist, kann schon damit seine Partnerschaft erheblich entlasten.
  • Statt sich gegenseitig der erotischen Langeweile zu beschuldigen, sollte man besser versuchen, sich gegen das evolutionäre Erbe, das uns diese Langeweile beschert, zu verbünden.
  • Die Wiedererweckung verloren geglaubter sexueller Begehrlichkeiten durch Eifersucht ist ein altes und auch heute noch wirksames biologisches Programm.
  • Lassen Sie es nicht auf spontane Aktivierungen dieses Programms ankommen sondern nutzen sie es gezielt und bevor es zu spät ist mit diversen Eifersuchtsspielen. Ein paar Anregungen stehen im Text, aber Ihnen fällt sicher auch selbst noch was ein.
  • Oft noch schlimmer als gleichzeitig beidseitig lau gewordene Gefühle belastet eine Beziehung, wenn nur ein Partner sexmüde geworden ist.
  • Der Rat an den noch sexhungrigen Partner, eine zeitlang seinen Sexhunger konsequent zu unterdrücken und zu verbergen, ist ein Rat, der selten hält was er verspricht.
  • Versuchen Sie es doch besser mal anders herum und haben Sie solange täglich Sex, bis das keiner mehr will. Möglich, dass es dann früher oder später in einer beide Seiten zufrieden stellenden Frequenz weiter geht.

Ein solcher Reset für den Sex setzt allerdings ebenso wie die Eifersuchtsspiele voraus,  dass beide Partner noch an einer gemeinsamen Lösung ihres sexuellen Dilemmas interessiert sind.

Kapitel VIII: Ein nicht mehr zeitgemäßes Erfolgsmodell unserer Evolution: Der innere Schweinehund

Vieles von dem, das Sie in diesem Buch gelesen haben, kam Ihnen sicher schon bekannt vor. Neu war vielleicht oft nur die etwas andere, evolutionstheoretische Perspektive. Insbesondere die zentralen Empfehlungen aus Kapitel II und III, nämlich artgerechter = gesünder zu essen, sich mehr zu bewegen und damit nicht zuletzt auf das Körpergewicht zu achten, dürften den meisten so geläufig sein, dass sie es schon gar nicht mehr hören beziehungsweise lesen wollen. Diese Empfehlungen leuchten auch ein. Aber dennoch werden sie viel zu wenig befolgt. Warum das so ist, lässt sich ebenfalls wiederum mit unserer Evolution in einer lange zurück liegenden Vergangenheit erklären.

Kein genetisches Verhaltensprogramm für gesunde Lebensführung

Wir besitzen leider kein genetisches Programm, das uns automatisch zu einer gesunden Lebensführung veranlasst. Ein solches Programm zu erwerben, war in unserer Evolution unnötig. Essen gab es die meiste Zeit unserer Entwicklungsgeschichte nur gegen Bewegung. Zudem sorgte Mutter Natur auch mit unregelmäßigen Zeiten knapper Nahrung dafür, dass wir nicht zu dick wurden. Zufällige Mutationen von Verhaltensgenen, die ihre Träger veranlasst hätten, ein Nahrungsangebot freiwillig zu beschränken oder sich mehr zu bewegen als es für den Nahrungserwerb unbedingt notwendig war, hätten unter solchen Bedingungen keinen Vorteil sondern nur Nachteile geboten. Sie hätten keine Chance gehabt, sich in einer Population durchzusetzen. Denn freiwilliger Nahrungsverzicht in Überflusszeiten hätte überlebensnotwendige Körperfettreserven für Hungerzeiten geschmälert. Und jeder unnötige Gang oder Lauf in eine Wildnis, in der Beutegreifer oder feindselige Artgenossen lauerten, war ein unnötiges Risiko gewesen. Der oft kritisierte innere Schweinehund ist also ein bewährtes Modell unserer Evolution, der uns genau genommen erst seit ein paar Jahrzehnten das gesunde Überleben schwer macht. Sein in zig Jahrtausenden erfolgreiches Gebot, von allem, was gut schmeckt soviel wie möglich zu essen, solange es da ist, wurde erst ab dem Moment zum Problem, als der Nahrungserwerb nicht mehr automatisch an Körperarbeit gekoppelt und Nahrung zugleich ständig verfügbar war. Die altbewährte Order des inneren Schweinehundes, sich bei vollem Bauch auszuruhen um Kräfte für den nächsten notwendigen Jagd- oder Sammelausflug zu schöpfen, wird natürlich zum zusätzlichen degenerierenden Problem, wenn der Bauch immer voll ist. Wer es dann nicht rechtzeitig schafft, sein Hirn umdenkend einzuschalten, droht zwischen Fertigfood, Chips und Süßgetränken auf der Fernsehcouch oder vor Computerspielkonsolen vorzeitiger Krankheit und verfrühtem Tod entgegen zu vegetieren.

Beschränkter Verlass auf unser Hirn

Glücklicherweise hat der Mensch die Fähigkeit, genetische Verhaltensprogramme kraft seines Geistes zu überwinden. Das meiste, was bei Tieren angeborene Instinkte regeln, kann der Mensch erlernen oder durch Erlernen wenigstens modifizieren. Unzählige auch höhere Tiere verenden beispielsweise jedes Jahr im Straßenverkehr. Dies deshalb, weil es in der Natur vor Erfindung des Autos durch Menschen jenseits sehr seltener aber dafür umso lauterer Steinlawinen oder umstürzender Bäume keine ähnlich großen Objekte gab, die derart schnell aber vergleichsweise leise mit vernichtendem Potenzial daher rasten wie eben moderne Autos. Es würde wohl noch viele Jahrtausende dauern, bis die Evolution bei einer zunehmenden Zahl von Tierarten Verhaltensprogramme installiert hat, die sie heutigen Autos weniger hilflos ausliefert. Aber das wird schon deshalb nicht passieren, weil es die heutigen Autos keinesfalls lange genug geben wird. Unsere kulturelle Evolution, die eben auch Tieren ständig neue Umweltverhältnisse aufbürdet, ist viel zu schnell als dass unsere Mitgeschöpfe sich ihr anpassen könnten.

Menschen lernen dagegen dank ihrer außergewöhnlichen Hirnleistung rasch und leicht, sich neuen Verhältnissen angemessen zu verhalten. Um bei unserem Beispiel zu bleiben, können sie etwa Geschwindigkeiten heranrauschender Autos richtig einschätzen. Dies selbst dann, wenn sie in einem noch Kfz-freien Bergdorf aufgewachsen sind und erst im Erwachsenenalter in eine verkehrsreiche Stadt verschlagen wurden. So gesehen sollte unser Gehirn eigentlich auch in der Lage sein, nicht nur die neuen Gefahren des Straßenverkehrs sondern auch die des zu ungesund Essens und des zu wenig Bewegens zu beherrschen. Es könnte das prinzipiell auch, aber irgendwie pocht da der innere Schweinehund auf ältere Rechte und hat dabei eine starke Verbündete aus Urzeiten an seiner Seite: Die Kraft des Verdrängens.

Die Kraft des Verdrängens

Während auch uns etwa bei einem eklatanten Fehlverhalten im Straßenverkehr sofortige unerwünschte Folgen drohen, sind die negativen Konsequenzen eines ungesunden Lebensstils erst nach langer Latenz zu befürchten. Das erzieht uns im Gegensatz zu raschen Sanktionen vergleichsweise wenig. Warum das so ist, hat auch wieder mit einer im Menschengeschlecht schon lange geübten Strategie zu tun. Denn infolge seines überragenden Geistes ist der Mensch wahrscheinlich das einzige Lebewesen, dem die eigene Endlichkeit bewusst ist. Geschichten von der Unsterblichkeit im Paradies, aus dem wir vertrieben wurden und die es so oder ähnlich in nahezu allen Kulturen gibt, sind wohl eine archaisch-sehnsüchtige Erinnerung an den tierischen Zustand vermeintlicher Unsterblichkeit. Wer sich den eigenen Tod nicht vorstellen kann, fürchtet ihn nicht. Zumindest nicht vorab.

Die Erkenntnis, früher oder später irgendwann sterben zu müssen, konnten und können die meisten Menschen nur aushalten, indem sie den Gedanken eigener Endlichkeit weitgehend aus ihrem Denken verdrängten und verdrängen. Wer das beherrscht, der lässt sich schwerlich von Pommes, Cola, Couchsitzen und anderen ungesunden aber dennoch geliebten Gewohnheiten abbringen nur weil er damit seine Endlichkeit – zudem womöglich lediglich vielleicht – etwas verkürzt. Lebensstiländerungen bedürfen also anderer Motivationen als zu weit in die Zukunft mahnende Zeigefinger.

Um möglichst viele Menschen zu Lebensstiländerungen in Richtung eines artgerechteren, gesünderen Verhaltens zu motivieren, wäre deshalb wichtig, zusätzlich zum unbestreitbaren Langzeitnutzen immer wieder auf konkrete positive Sofort- oder Früheffekte aufmerksam zu machen. Nachfolgend noch mal einige Beispiele für schnelle Belohnungen, die Ihnen winken, wenn Sie falsche Gewohnheiten tatsächlich korrigieren.

Mehr Selbstbewusstsein, besserer Sex, erholsamerer Schlaf

Haben Sie bereits Übergewicht und sollten Sie es mit den in den Kapiteln II und III angebotenen oder mit anderweitigen Ratschläge schaffen, abzunehmen, reduzieren damit nicht nur langfristig ihr Risiko für Herz, Kreislauf, Zuckerstoffwechsel und Gelenke, sondern sie dürfen unter anderem folgende Soforteffekte erwarten:

  • Der ganze Alltag wird leichter. Sie spüren das nicht nur beim Treppensteigen und Schuhe zubinden.
  • Das Selbstbewusstsein wächst.
  • Eigenen Kinder und der Partner sind stolz auf Ihren Abnehmerfolg.
  • Wer noch oder wieder auf Partnersuche ist, hat mit Normalgewicht mehr Chancen als mit Übergewicht.
  • Viele Männer bemerken parallel zu verlierendem Übergewicht eine Zunahme ihrer Libido und Potenz.
  • Sollten Sie sich bereits in einem Frühstadium des „Altersdiabetes“ befinden, verschwindet der womöglich wieder. Und das ganz ohne Medikamente.

Sportmuffel, denen es, etwa nach Anleitung in Kapitel III, gelingt, ein regelmäßiges Ausdauertraining zu beginnen und durchzuhalten, leisten nicht nur eine wichtige Voraussetzung, länger und gesünder zu leben. Sie dürfen ebenfalls zahlreiche Soforteffekte erwarten:

  • Ein Leistungszuwachs wird schon nach Tagen bis wenigen Wochen spürbar. Z.B. fällt der zwei bis dreimal wöchentliche Dauerlauf schnell immer leichter. Und das, obwohl Sie die Laufstrecke vielleicht sogar ausdehnen.
  • Regelmäßige Bewegung trägt maßgeblich dazu bei, Normalgewicht inklusive der in den vorgenannten Spiegelpunkten genannten Zusatzvorteile zu erreichen und zu erhalten.
  • Bewegung baut sofort spürbar Stress ab.
  • Ein einstündiger Dauerlauf oder flotter Spaziergang am Abend lässt Sie leichter ein- und besser durchschlafen.
  • Regelmäßige körperliche Aktivitäten und dabei besonders Dauerläufe hellen die Stimmung auf. Sie können bei leichteren Depressionen sogar so stark wie ein potentes Antidepressivum wirken. Und das oft schon wenige Tage nachdem Sie damit angefangen haben, während die gewünschte Wirkung antidepressiver Medikamente oft erst nach vier bis sechswöchiger Einnahme spürbar wird.

Wer öfter Wasser statt Alkohol trinkt, …

  • … nimmt oft allein schon deshalb ab.
  • … muss nachts gar nicht oder seltener auf die Toilette.
  • … steigert seine Merk- und Konzentrationsfähigkeit.

Das könnte doch fürs Erste schon mal Anreiz genug sein, die eine oder andere der in den Kapiteln II und III angeratenen Verhaltensänderungen zu probieren. Je mehr positive Effekte Sie rasch am eigenen Leib erfahren, desto leichter wird es Ihnen fallen, die zugrunde liegenden Verhaltensänderungen fortzusetzen und weitere anzutesten. Wer bereits soweit ist, hat gegen seinen ehedem bewährten aber inzwischen überkommenen inneren Schweinehund schon so gut wie gewonnen. Möglicherweise gibt es vorher jedoch noch eine dritte Hürde zu überwinden. Und die steckt in einer relativ naheliegenden Frage.

Warum werden wir trotz unseres ungesunden Lebensstils älter als die meisten Jäger und Sammler?

Nach Angaben des Statistischen Bundesamtes hat sich in Deutschland ähnlich wie in anderen westlichen Industrienationen die Lebenserwartung in den letzten 100 Jahren in etwa verdoppelt. Ein heute 65-jähriger Mann hat eine durchschnittliche Lebenserwartung von weiteren 17 Jahren, eine ebenso alte Frau von sogar 20 Jahren. Derzeit noch existente Naturvölker können da bei weitem nicht mithalten, was nur zum Teil damit zu tun hat, dass sie als Grenzgänger zwischen alten und neuen Welten überfordert und vorzeitig zerrieben werden. Man denke etwa an das verbreitete Alkoholproblem entwurzelter grönländischer Inuits oder australischer Aborigines. Die Mehrheit der Wissenschaftler geht aufgrund von Zahn- und Knochenanalysen davon aus, dass auch die meisten frühen Jäger und Sammler trotz ihres von Kulturschocks verschonten und artgerechten Lebens im Schnitt nicht so alt wurden wie wir.

Lebensgefährliche Vergangenheit

Nun, das Leben in der Steinzeit, die Zeiten davor und auch die längste Zeit danach waren kein Ponyhof. Unsere Ahnen waren weit mehr potenziell tödlichen Risiken ausgesetzt als wir. Wehrhafte Jagd- und Raubtiere bedeuteten eine erhebliche, allgegenwärtige Verletzungsgefahr. Feindliche Stämme trachteten einem immer wieder nach Leib und Leben. Unkalkulierbare, zu lange Hungerepisoden schwächten den Organismus und machten ihn anfällig für zahlreiche Infektionen. War das eigene Immunsystem von einem ernsten Infekt völlig überfordert oder versagten bei einem schweren Trauma die Selbstheilungskräfte des Körpers, standen den Betroffenen weder potente Antibiotika noch leistungsfähige Chirurgen noch Intensivstationen zur Seite. Aller Schamanenromantik zum Trotz starb man einfach. Auf sich und eine Gemeinschaft mit begrenzten Mitteln gestellt, überlebten nur die Fittesten. Insbesondere waren auch Säuglinge und Kleinkinder diesem grausamen Selektionskriterium ausgesetzt und ihre hohe Sterblichkeit trug bis in die jüngere Vergangenheit maßgeblich zu einer niedrigen durchschnittlichen Lebenserwartung bei.

Dank einer stets ausreichenden Ernährung, sicherem Trinkwasser, verbesserten Wohnbedingungen, der gesellschaftlichen Eindämmung gewalttätiger Auseinandersetzungen, sowie aller Möglichkeiten der modernen Medizin einschließlich effektiver seuchenhygienischer Maßnahmen, haben wir heute viele Gefahren der Vergangenheit gebannt. Durch eine besonders in den letzten Jahrzehnten immer weitere Aufgabe artgerechter Lebensverhältnisse nehmen wir allerdings neue Gefahren in Form vielfältiger Zivilisationskrankheiten in Kauf. Es gibt eine zunehmende Zahl von Wissenschaftlern, die befürchten, dass wir den Wendepunkt in der Lebenserwartung schon bald erreicht haben werden. Dickleibigkeit und oft damit assoziierte neuzeitlich stark zunehmende Gesundheitsstörungen wie Diabetes, Herzinfarkt, Schlaganfall und verschiedene Krebsleiden könnten dafür sorgen, dass vielleicht schon unsere Kinder trotz weiter verbesserter medizinischer Möglichkeiten im Schnitt nicht mehr so alt werden wie wir und auch früher als wir von Zivilisationsleiden geplagt werden.

Das Gute aus Neu und Alt vereinen

Das müsste nicht sein. Wir haben die phantastische Chance, die gesundheitserhaltenden und –wiederherstellenden Möglichkeiten der Moderne mit dem evolutionär Bewährten eines artgerechten Lebens zu vereinen. Viele tun das mehr oder weniger bereits und tragen damit wahrscheinlich maßgeblich zu unserer hohen durchschnittlichen Lebenserwartung bei. Die, die sich weiterhin hauptsächlich von Junkfood ernähren, rauchen und sich kaum bewegen, dürfen sich auf diese gesamtdurchschnittliche Lebenserwartung nicht verlassen. Auch unter ihnen mag der eine oder andere ein Methusalem werden, aber im Schnitt wird in ihrem Kollektiv ein paar Jahre früher gestorben als im Schnitt des Gesamtkollektives oder gar in dem der Gesundheitsbewussten und statistisch werden sie auch deutlich früher chronisch krank.

Doch wie bereits gesagt, nur mit dem Versprechen, durch eine Lebensumstellung sein gesundes Leben wahrscheinlich ein bisschen zu verlängern, lockt man jemanden, der es sich dort vielleicht schon seit vielen Jahren bequem gemacht hat, schwerlich von der Couch. Aber vielleicht sind die versprochenen positiven Soforteffekte Anreiz genug, ein bisschen in ein neues, altbewährtes Leben zu starten. Probieren Sie es doch einfach mal aus. Und geben Sie Ihrem inneren Schweinehund einen kräftigen Tritt, wenn er sich Ihnen dabei in den Weg stellen will. Oder sehen Sie auch nur gnädig über ihn hinweg. Denn Sie wissen jetzt, warum er es tut und dass dieses Warum heute nicht mehr zählt.

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